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Konservativ-liberale Denker erwiesen sich außerdem als Anwälte des
Gedankens, den Menschen ein Refugium erhöhter „Privatheit“ zu schaffen,
wo es einen „seelischen Hausfriedensbruch“ nicht geben könne.509 Ähnliches
war 1934 im CS zu lesen: Durch die Maiverfassung sei „in summa für den
einzelnen eine Einbuße an staatsbürgerlichen Freiheiten in keiner Weise
entstanden“, vielmehr seien „die Qualitäten des staatlichen Schutzes per-
sönlicher Interessen weitgehend ausgebaut worden“.510 1937 nannte Paul
Thun-Hohen stein als kennzeichnendes Merkmal des Österreichers, dass
dieser „ein Privatleben“ besitze, das er „bis zum Äußersten zu verteidigen“
bereit sei.511 Gesetze und Verordnungen, die es auch möglich machten, die
Privatsphäre der Menschen auszuleuchten, wie sie von der italienischen Re-
gierung bereits 1926 erlassen worden waren512, gab es in Österreich nicht.
Eine genuin bäuerliche Mentalität spiegelt sich in den herrschenden An-
sichten zum Erbrecht, die für einen Vorrang des Besitzes vor dem Besitzen-
den stehen. 1926 sprach sich Georg Baumgartner für die Intestaterbfolge aus,
eine „naturrechtliche Forderung“, während das Testament „bereits individu-
alisierte Verhältnisse“ voraussetze. Wenn er sich daher für die Beibehaltung
des geltenden Erbrechts einsetzte, ging es ihm nicht „um die Erhaltung von
Standesvorrechten und Privilegien, sondern um die Rettung der Heimat“.513
Wilhelm Mohr würdigte die „gesetzliche Erbfolge“ als Einrichtung, die das
Recht der Familie gegen mögliche testamentarische Verfügungen schützt.514
Für Hans Karl Zeßner-Spitzenberg war die Erblichkeit des Besitzes ein
Aspekt von Legitimität; dass „heute auf diesem Gebiet gänzliche Desori-
entierung“ herrsche, „verdanken wir der Befangenheit in die Lehren des
Rechtspositivismus“, der sich frei von jeder Abhängigkeit von einer sittli-
chen Grundordnung und von jeder Verantwortung vor Gott fühle. Auch das
öffentliche Recht müsse ewigen Gesetzen unterworfen sein.515
Hermann Struber gab dem Schlusskapitel seines Buches über Österreichs
Wiederaufbau nach dem Ersten Weltkrieg den Titel Die Interessierung an
Heimat und Vaterland durch Besitz. Den Eigentumsbegriff des 19. Jahr-
hunderts nannte er „bürgerlich-materialistisch“ bzw. „unchristlich und un-
gerecht“. Als für ihn ernüchterndes Ergebnis hielt er fest, dass weniger als
hundert Jahre nach der Grundentlastung 70 Prozent der Österreicher Lohn-
empfänger seien; gegenüber den Bauern stünde die Republik vor derselben
509 habermann, Das Maß, 15 und 24 f.
510 CS 3. 6. 1934 (G. canaval).
511 thun-hohenstein, Österreichische Lebensform, 12.
512 woller, Rom, 47.
513 baumGartner, Arbeit und Erwerb, 54–58.
514 mohr, Das Recht, 76.
515 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Legitimität, 164–166.
6.5 BAUERNTUM ALS IDEAL 351
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580