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lernten, während „auf der Gasse“ eher Verrohung eintrete.670 Die Bildungs-
einrichtungen hatten für sie daher eine weiter reichende Aufgabe als die
Familie zu ergänzen: Im Proletariermilieu müssten sie diese ersetzen. Die
prekären Verhältnisse, die Rada bei Besuchen in den Familien ihrer Schü-
lerinnen zu sehen bekam, ließen sie „Respekt“ vor der Privatheit nicht als
Ideal empfinden, vielmehr suchte eine bildungsoptimistische Philanthropin
nach Wegen, Hilfe zu leisten. Sie verstand Pädagogik als Beitrag, die Men-
schen einer höheren Zivilisationsstufe zuzuführen. Wenn sie die Mädchen
auch außerhalb der Schule systematisch beobachtete, so tat sie das nicht,
um deren Freiheit einzuschränken, sondern um ihre Hilfe gezielter planen
zu können671, ausgestattet mit jener Nüchternheit, die durch Leopold Teu-
felsbauers Aussage, es gäbe bereits junge Menschen, die die Berechtigung
des Familienlebens in Frage stellen und staatliche Erziehung forderten672,
als Sinn für die Realität ausgewiesen wird.
Am 14. April 1934 kam das Verhältnis zwischen Familie und Schule im
Ministerrat zur Sprache, als eine Vertretung der Elternschaft im BKR zu
Diskussion stand. Otto Ender hielt es für wünschenswert, die Familie zur
Geltung zu bringen, Bundeskanzler Dollfuß präzisierte aber, die Bestim-
mung dürfe sich nicht auf das Schulwesen beziehen. Kurt Schuschnigg hielt
es für geradezu bedenklich, die Eltern in reinen Schulangelegenheiten mit-
reden zu lassen.673 Am Ende einigte man sich auf eine Vertretung der Eltern-
schaft im BKR, es zählten aber nur die Eltern ehelicher Kinder.674
Die Frau als Hüterin personaler Werte
Rudolf Henz zeichnete die Familie als Ort der Geborgenheit und des Zusam-
menhalts.675 Eine theologische Begründung lieferte Anton Thir, der die Frau
zum Angelpunkt machte.676 Er würdigte deren Rolle als Gehilfin des Man-
nes, Erzieherin der Kinder und Hort der christlichen Tugend.677 Im Besonde-
670 rada, Proletariermädchen, 67.
671 rada, Proletariermädchen, 1–4.
672 CS 17. 6. 1934 (L. teufelsbauer).
673 PMR VIII/6, Prot. 938 (14. 4. 1934), 422.
674 die neue österreichische verfassunG, 10; Kraus, „Volksvertreter“, 99.
675 wöGerer, Innere Emigration, 118; diesbezüglich aussagekräftige Zitate bei Gober, Schule,
167–169.
676 Zum Frauenbild des Ständestaates vgl. bandhauer-schöffmann, Geschlechterdifferenzen,
passim; JuffinGer, Politischer Katholizismus, 69–72; liebhart, Vom Wesen (sehr politisch);
tálos, Herrschaftssystem (2013), 380–383.
677 Zur These von den einander ergänzenden, aber nicht gleichartigen Geschlechtern vgl.
bandhauer-schöffmann, Männerstaat, 257; Kirchmayr, Frauenpolitik, 28.
6.
STANDESBEWUSSTSEIN364
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580