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Franz Martin Schindler hatte der „Stellung der Frau im gegenwärti-
gen Gesellschafts- und Erwerbsleben“ gut vier Seiten seines noch vor dem
Ersten Weltkrieg erschienenen Handbuchs gewidmet, in vornehmlich de-
skriptiver Form und um eine vorsichtig-neutrale Ausdrucksweise bemüht.
Er erwähnte auch die „Frauenemanzipationsbewegung“: Eine „gemäßigte“
Richtung innerhalb derselben „legt das Schwergewicht auf eine den moder-
nen Verhältnissen der Frauen angepasste Erweiterung des Erwerbsrechts
und daher zugleich des Bildungsrechts der Frau“. Als „radikal“ bezeichnete
er völlige Gleichstellung der Geschlechter im öffentlichen und privaten Le-
ben, gleiche politische Rechte, Befreiung von der Unterordnung unter den
Gatten. Alles in allem bedeutete auch für ihn Gattin und Mutter zu sein
„das irdische Durchschnittsziel des Frauenlebens“. Der Schöpfer habe an
Ehe und Familie die Erhaltung der Menschheit geknüpft; die Frau erfülle in
der Familie eine Aufgabe, die ebenso wichtig sei wie die des Mannes in der
Gesellschaft. Auch bezeichnete er die Familie als „eine wesentlich monarchi-
sche Institution und ihr geborener Monarch ist der Mann“. Durch Teilnahme
am öffentlichen und am Erwerbsleben müsste die Frau ihre häuslichen
Pflichten vernachlässigen, die Kinder hätten Nachteile, die größer seien als
die Vorteile der Gesellschaft. Gleichwohl könne eine gemäßigte Richtung der
Frauenbewegung innerhalb gewisser Grenzen gebilligt werden, u. a. wenn
den Männern dadurch nicht Arbeit entzogen werde, die sie zur Familien-
gründung bräuchten. Nicht übersehen werden sollte Schindlers Sorge um
schonende Bestimmungen für Frauen, die dem Respekt vor der Frau und
ihrer Psyche geschuldet waren.712
Ignaz Seipel entwickelte diese Gedanken evolutionär weiter, bis hin zum
Gedanken der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter im
gesellschaftlichen Leben. 713 Das NR ließ zu wiederholten Malen Vertreter tra-
ditioneller Positionen zu Wort kommen.714 Solche gab es auch in den Reihen
der Frauen selbst, wie beispielsweise Lola Marschall, die in der außerhäusli-
chen Frauenarbeit einen Aspekt sozialistischer Politik erkannte.715
Sofern Frauenarbeit gutgeheißen wurde, musste sie sich, wie ebenfalls
Schindler ausführte, auf Berufe beschränken, in denen „Mütterlichkeit“
zählte, das Kennzeichen der echten Frau. Als deren natürlichem Wesen
712 schindler, Lehrbuch III, 769–771.
713 liebmann, Seipels Frauenbild, 254 und 258–260. Restriktiv hingegen die Interpretation
des Brixner Weihbischofs Sigismund Waitz, der Frauenbildung und Frauenstudium jedoch
ausdrücklich befürwortete: Außerhäusliche Erwerbsarbeit der Frauen akzeptierte er al-
lenfalls als Notlösung; auch dem Frauenwahlrecht stand er skeptisch gegenüber; KoGler,
Sigismund Waitz, 298 f., 301, 307 f. und 313–315.
714 NR 21. 6. 1930 (H. GetZeny).
715 NR 30. 3. 1929 (L. marschall). 6.
STANDESBEWUSSTSEIN368
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580