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keit der Frau zu einer Notwendigkeit mache. Sein Fazit lautete: „Die ganze
Frage wird allerdings auf gesetzlichem Wege schwer zu regeln sein. Es soll-
ten aber die betreffenden Personen aus eigenem sozialem und rechtlichem
Empfinden heraus den Platz freimachen, um nicht mitschuldig zu werden an
der Not und dem Elend so vieler Familien.“739
Julius Raab brachte die Berufstätigkeit von Müttern in Zusammenhang
mit steigender Kriminalität740, andere Mandatare mit dem zeittypischen
Phänomen des Geburtenrückgangs.741 Rudolf Henz wies Interpretationen
desselben als kulturellen Fortschritt742 zurück743, Friedrich Funder deutete
ihn als Ausdruck religiösen und sittlichen Verfalls der Gesellschaft744, die
konservative Presse dachte über Gegenmaßnahmen nach.745 Auch Leopold
Kunschak bereiteten die sinkenden Geburtenraten Sorge, insbesondere dass
sie nicht mehr, wie noch vor dem Krieg, vornehmlich in den Kreisen der Be-
sitzenden und Gebildeten, sondern auch in den Arbeiterfamilien festzustel-
len seien.746 Die zunehmende Ehelosigkeit führte er nicht nur auf Arbeits-
losigkeit und Wohnungsnot zurück, sondern auch auf die auf Vergnügen
bedachte „moderne Lebensauffassung und Lebensführung“.747
Auch Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi interpretierte die sinkenden
Geburtenzahlen in Europa nicht nur als Ausdruck von Rationalismus, son-
dern auch von Eudämonismus und Egoismus.748 Richard Schmitz zufolge
fehle bei Kinderlosigkeit ein wesentlicher Bestandteil der Ehe.749 Die „Er-
schütterung des Familienlebens“, eine der Hauptursachen für die gegenwär-
tige Krise, verdichte sich in Konkubinat und Verhütung.750 Dieselbe Ansicht
vertrat Friedrich Funders Reichspost.751 Franz Hörburger und Karl Lug-
739 struber, Österreichs Wiederaufbau, 63 f.
740 raab, Ansichten, 144.
741 Zur allgemeinen Klage darüber vgl. Kirchmayr, Frauenpolitik, 27; tálos, Herrschafts-
system (2013), 385; für Italien thöndl, Oswald Spengler, 109–113; aZZaro, Deutsche Ge-
schichtsdenker, 650.
742 In der Arbeiterschaft glaubte man, dass eine Beschränkung der Kinderzahl eine höhere
Lebensqualität bedeute; ratZenböcK, Mutterliebe, 35.
743 henZ, Österreich, 61 und 66; zum Hintergrund vgl. bandhauer-schöffmann, Mutteropfer,
68.
744 Pfarrhofer, Friedrich Funder, 154 f.
745 SZ 2. 2. 1936 (F. sturm).
746 KunschaK, Frauenfrage, 4–7.
747 KunschaK, Frauenfrage, 10–13.
748 coudenhove-KalerGi, Held, 142.
749 ennsmann, Frauenpolitik, 43.
750 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 56; vgl. erneGGer, Staatliche Sozialpolitik,
143; ennsmann, Frauenpolitik, 5 f.
751 ennsmann, Frauenpolitik, 53.
6.6 DIE FAMILIE 371
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580