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Andrian bezeichnete Raum, Zeit und Stand als kulturbestimmende Fakto-
ren. Obwohl für ihn selbstverständlich war, dass ein menschliches Indivi-
duum an mehreren solcher „Quasisubstanzen“ teilhaben könne und dass
die ständische Kulturidee der der Nation weder vor- noch nachgeordnet sei,
tendierte er zu einer Überordnung des Faktors Stand vor Nation und schrieb
den Ständen kulturelle Sozialfunktionen zu.788 Dahinter stand die Überzeu-
gung, der moderne Begriff der Nation berge alle im Volk schlummernden
Gefahren in sich; die Überhöhung der Begriffe „Volk“ und „Nation“ durch
den Nationalsozialismus verstand er als Fortschreibung der Ideen von 1789.
Seine Polemik gegen dieses System ging daher stets mit jener gegen die De-
mokratie einher.789 Sie ist Ausdruck des konservativen Axioms, dass Kultur
nicht nur ein nationales, sondern auch ein soziales Distinktionsmerkmal
sei.790 Mit ähnlichen Argumenten entkräftete Alexander Lernet-Holenia den
Rassismus der Nationalsozialisten: „Es ist aber wahr, dass die böhmischen
Dienstleute ungefähr so aussehen wie die holländischen; es ist ebenso wahr,
dass der russische Adel ungefähr so aussieht wie der österreichische.“791
Wie der Stand galt die Nation als „eine Art Rückversicherung gegen die
Risiken der Individualisierung“.792 Sie habe, war Dietrich von Hildebrand
überzeugt, gleichsam als Ersatz für verloren gegangene personale Bindun-
gen zu gelten.793 Hugo Hantsch unterstrich den Nexus zwischen Nationalis-
mus und Liberalismus.794 Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts ist somit
als eine Spielart des Bedürfnisses nach sozialer Zugehörigkeit zu verstehen,
wie sie als Folge der Ereignisse von 1789 immer stärker abhanden gekom-
men795 bzw. vom Liberalismus ignoriert worden war. In der Folge gingen Na-
tionalisierung und Demokratisierung meist Hand in Hand, und der Nationa-
lismus wurde zur Ideologie der Kleinbürger.796
788 v. andrian, Oesterreich, 148–155; CS 28. 2. 1937 (W. breitenfeld); zur These, Volk und
Nation seien stärker vereinnahmende Kategorien als Korporation oder Stand vgl. meyer,
Stand, 11.
789 dorowin, Retter, 114 f
790 dorowin, Retter, 99 f.
791 lernet-holenia, Der Graf, 149 f. Das Zitat ist vor dem Hintergrund des Faktums zu sehen,
dass in Lernet-Holenias Œuvre ungesicherte Vaterschaften häufig sind – weswegen sich
Genealogien selten sicher rekonstruieren lassen; mayer, Wunscherfüllungen, 37 f.; zu den
Grenzen zwischen den Ständen ebd. 211.
792 schreyer, Die „Nation“, 58.
793 v. hildebrand, Engelbert Dollfuß, 6; connelly, From Enemy, 109.
794 hantsch, Österreichs Schicksalsweg, 15; vgl. fellner, Mission, 89.
795 brix, Liberalismus, 253; hanisch/urbanitsch, Prägung, 94; leisse, Der Untergang, 9 f., 37
und 172; PrischinG, Paradoxa, 261.
796 leisse, Der Untergang, 51–54. Selbst für Otto Bauer war Nationalismus, sofern es nicht
nur um die Verkleidung ökonomischer und sozialer Interessen ging, eine Ideologie, die an-
6.
STANDESBEWUSSTSEIN376
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580