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Kreise der Gebildeten ist der eigentliche Sitz des Volkstums.“819 Noch deut-
licher akzentuierten diesen Gedanken Oskar Benda820 und Guido Zernatto,
Letzterer freilich nicht ohne einen gewissen bildungsbürgerlichen Dünkel.821
Georg Moth erinnerte an Franz Grillparzers berühmtes Diktum, der Weg
der neueren Bildung verlaufe „von der Humanität über die Nationalität zur
Bestialität“.822 Anton Klotz erläuterte: Mit Humanität habe der Dichter den
anthropozentrischen Geist der Aufklärung gemeint.823 Er verwies auf Max
Schelers rein geistigen, außerpolitischen Nationsbegriff, dem zufolge die
österreichische Idee mehr sei als der „ungezügelte(n) Naturdrang des Blu-
tes“824; sie stehe in Gegensatz zu einer in bloße Triebhaftigkeit zurücksin-
kenden Welt.825 Die SZ würdigte den Philosophen, der der Nation das Recht
auf einen eigenen Staat absprach826, als Befürworter des Nationalitätenstaa-
tes.827 In der Wertewelt von Herbert Stourzh, der besagtes Grillparzer-Zi-
tat einem der Kapitel seines Hauptwerks voranstellte, war die „Idee der
Menschheit“ vorrangig: Dem Begriff „Volk“ komme keine Wirklichkeit zu,
weil die tatsächlich Handelnden nur dessen einzelne Angehörige seien.828
Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, der Sohn eines k. u. k.-Diplomaten
und einer Japanerin, in dessen Denken Europa und Asien wichtige Katego-
rien darstellten829, bezeichnete die europäischen Nationen als geistige Ge-
meinschaften830, die nicht auf gemeinsame Ahnen, sondern auf gemeinsame
Lehrer zurückgingen.831 „Die Nation ist ein Reich des Geistes“, war er über-
zeugt, „es muss also jeder, der Ehrfurcht empfindet vor dem Geist – auch
Ehrfurcht empfinden vor dem nationalen Gedanken“.832 Ausdrücklich ver-
wahrte er sich gegen die Definition der Nation als „Ordnung des Blutes“833,
nicht zuletzt weil alle europäischen Völker Mischvölker seien.834 Er sprach
819 rassem, Othmar Spann, 94 f.; vgl. becher, Der Blick, 124; sieGfried, Universalismus, 201 f.
820 benda, Die österreichische Kulturidee, 9.
821 Zernatto, Vom Wesen, 84.
822 moth, Neu-Österreich, 48.
823 KlotZ, Sturm, 38.
824 KlotZ, Was wird, 46; vgl. fröhlich, Der Bürger, 110 und 114–116.
825 Die Monarchie 1. 10. 1918, 8 f. (M.scheler)
826 flasch, Die geistige Mobilmachung, 127.
827 SZ 17. 2. 1935 (J. döblinG).
828 H. stourZh, Gegen den Strom, 94–96.
829 Gehler, Europa, 122.
830 conZe, Richard coudenhove-KalerGi, 20; ZieGerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas,
474–478.
831 coudenhove-KalerGi, Pan-Europa, 137.
832 coudenhove-KalerGi, Pan-Europa, 140; vgl. G. stourZh, Erschütterung, 303.
833 Zit. nach Gehler, Der lange Weg 2, 68.
834 coudenhove-KalerGi, Pan-Europa, 135. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN380
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580