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sich gegen die Vereinheitlichung nationaler Unterschiede aus, denn „Euro-
pas Größe liegt in seiner Mannigfaltigkeit, in seinen Gegensätzen, in seinen
Nationen“.835 Die Forderung nach Trennung von Nation und Staat war daher
selbstverständlich.836
Ein im Laufe der Zeit sich ändernder Nationsbegriff ist bei Franz Brandl
festzustellen. In den dreißiger Jahren sah er noch keine Notwendigkeit,
zwischen gesundem Heimatbewusstsein und Nationalismus zu unterschei-
den.837 Im Zentrum seines Denkens stand die Vorstellung „blutmäßiger Zu-
sammengehörigkeit“, der er – wie der Religion – die Kraft bescheinigte, den
Menschen „total“ zu erfassen. Nationalismus deutete er als Tendenz, den
Zusammenschluss derer, die sich als ein Volk fühlen, in einem Staat zu er-
reichen.838 Den Marxismus als drohende Gefahr vor Augen, erklärte er, es
sei ein Irrtum zu glauben, der Nationalismus ließe sich durch Internationa-
lismus vertreiben.839 Nach dem Zweiten Weltkrieg sah er die Problematik
differenzierter, wobei auch ständisches Denken einfloss. An den Volksbegriff
von 1848 dachte er mit Entsetzen zurück; einen Romanprotagonisten ließ er
erklären: „Der Bauer denkt anders als der Städter, ja der Großbauer anders
als der Häusler, der Fabrikant anders als seine Arbeiter [...]. Und das ist gut
so. [...] Aber wehe, wenn sich alle unter dem finden, was seit 1848 Volk heißt!
Die Geburtsstunde der Nation ist die Todesstunde des freien Geistes.“840 Bei
Brandl, einem zeitgenössischen Kritiker des österreichischen Ständestaa-
tes, wurden dessen gesellschaftspolitische Ideale also erst nach seinem Ende
wirksam.
Die den Nexus des Nationsbegriffs mit anderen Formen personaler Ver-
gemeinschaftung betreffenden Aspekte wurden in den untersuchten Texten
ebenfalls angesprochen. Stellvertretend für viele sei Josef Eberle zitiert:
„Eine gute Heimat bekräftigt die Wirkungen eines guten Elternhauses.“841
Andreas Posch sah in der Nation „die von der Natur gegebene Erweiterung
der Familie“.842
Seit dem 19. Jahrhundert herrschte in der katholischen Moraltheologie
Konsens darüber, dass Patriotismus in engem Zusammenhang mit Famili-
ensinn stehe. Da die Theologen das christliche Liebesgebot einem diligendi
ordo unterworfen sahen, also einer abgestuften Intensität menschlicher
835 coudenhove-KalerGi, Held, 41; vgl. ZieGerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas, 476.
836 coudenhove-KalerGi, Pan-Europa, 147.
837 brandl, Kaiser, 178.
838 brandl, Kaiser, 173–175.
839 brandl, Kaiser, 121.
840 brandl, Ein Reich, 75 f.
841 Zit. nach hofer, Joseph Eberle, 29.
842 NR 13. 3. 1926 (A. Posch).
6.7 HEIMATBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALISMUS 381
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580