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Staats-, Wirtschafts- und Kulturgrenze wäre.889 Zumal die gemeinsame Ab-
stammung oder gar „Bande des Blutes“ ließ er nicht gelten890; körperliche
Eigenarten könnten kein Thema sein: „Denn die Nation ist eine Gemein-
schaft von Voll-Menschen, nicht von naturwissenschaftlichen Kategorien.
Die Rasse hat mit der Nation nichts zu tun.“891 Die Muttersprache, so in An-
spielung auf Herder892, sei zwar ein wichtiger Faktor, aber, für sich allein
genommen, nicht das, was die Nation ausmache.893 Am ehesten ließ er eine
gemeinsame Geschichte gelten, die aber in höherem Maß Gefühl als Wissen
sei, auch das umfasse, was der Historiographie häufig entgehe.894
Zernattos Unterscheidung zwischen der westlichen und der mitteleuropäi-
schen, eher „ständischen“ Nation war in konservativen Kreisen in Österreich
Gemeingut: Anton Klotz warnte vor einer „Verwestlichung“.895 Aber auch der
Sozialdemokrat Karl Renner definierte die Nation nach dem Personal-, nicht
nach dem Territorialprinzip, nämlich als politische Einheit zwischen dem
Staat und dem Einzelnen.896 Otto Bauer sah in der Nation „die Gesamtheit
der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft ver-
knüpften Menschen“.897
Zernattos Nationsbegriff weist auch Gleichklänge mit jenem Friedrich
Meineckes auf. In einer klassisch gewordenen Definition hatte dieser 1907
die Vorstellung von der Kulturnation als einer geschichtlich überkommenen,
durch gemeinsame Werte verbundenen Gemeinschaft von Personen formu-
liert, der er die Staatsnation (Willensnation) gegenüberstellte: Die Kulturna-
tion betrachte das Volk als Ethnos, die Staatsnation als Demos.898
Unter den Mandataren, die jedem Nationalismus auf das Tiefste abge-
neigt waren, ist außer Guido Zernatto auch Hans Karl Zeßner-Spitzenberg
zu nennen:899 Der Nationalstaat sei individualistisch, dem „friedensfeindli-
889 Zernatto, Vom Wesen, 95–98.
890 Zernatto, Vom Wesen, 108.
891 Zernatto, Vom Wesen, 116; zu dieser für den Ständestaat insgesamt repräsentativen, aber
nicht immer klar akzentuierten Aussage vgl. suPPanZ, Österreichische Geschichtsbilder,
60–63.
892 Vgl. brucKmüller, Nation Österreich, 28 f.; DöMők, Nationalitätenfrage, 62; leisse, Der
Untergang, 70–80; Potočnik, Bewusstsein, 15 f. und 20 f.
893 Zernatto, Vom Wesen, 173–179; vgl. Potočnik, Bewusstsein, 307.
894 Zernatto, Vom Wesen, 131–134 und 182; vgl. brucKmüller, Nation Österreich, 31.
895 KlotZ, Was wird, 86.
896 DöMők, Nationalitätenfrage, 60; hanf, Karl Renners Beitrag, 63–65; lanGewiesche, Libera-
lismus, 51; ra’anan, Nation, 41.
897 Zit. nach Potočnik, Bewusstsein, 23; vgl. hanisch, Illusionist, 101.
898 G. schmidt, Friedrich Meineckes Kulturnation; schreyer, Die „Nation“, 16–18; G. stourZh,
Vom Reich, 19–21.
899 waltersKirchen, Blaues Blut, 75.
6.7 HEIMATBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALISMUS 387
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580