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dolf Henz989 und Karl M. Stepan990, sich mit der neuen Situation abzufinden.
Oswald Redlich empfand nach 1918 geistige Desorientierung und sprach
häufig von der „düsteren Gegenwart“.991 Das alte Österreich als lebenden
Organismus empfindend, bemühte er sich, bei seinen Kollegen und Schülern
Verständnis und Wertschätzung von dessen Kultur zu erwecken.992 1924
erklärte er in einem zur Feier des 60-jährigen Bestehens des Vereins für
Landeskunde von Niederösterreich gehaltenen Festvortrag zum Thema Lan-
deskunde und Geschichtswissenschaft, nunmehr gelte es, anstelle des alten
Österreichbewusstseins ein neues Heimatgefühl zu kultivieren.993
Die staatsrechtliche Situation Österreichs unmittelbar nach Kriegsende
wurde im Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutsch-Öster-
reich vom 12. November 1918 festgeschrieben, in dem die Österreicher
erklärten, ein Bestandteil der deutschen Republik sein zu wollen.994 Die
Rechtslage lautete seit dem Friedensvertrag von Saint-Germain vom 10.
September 1919 indes anders: Dessen Artikel 88 enthielt ein striktes An-
schlussverbot, und die Komponente „deutsch“ musste aus der offiziellen Be-
zeichnung Österreichs getilgt werden.995
Die Österreicher selbst waren in dieser Frage gespalten: Kräfte, die aus
politischen und wirtschaftlichen Gründen den Anschluss wünschten, stan-
den neben solchen, die ihn zu verhindern versuchten.996 Die im Raum ste-
hende Kernfrage lautete: Sind die Bewohner der 1918 entstandenen Repub-
lik deutsche Österreicher oder österreichische Deutsche?997
Bis 1921 war der Anschlusswille stärker, dann erhielt der Wunsch nach
Eigenstaatlichkeit Vorrang. Neue Anschlussbestrebungen kamen mit der
Wirtschaftskrise auf. 998 Diese wurden auch von Deutschland unterstützt999,
nach Anton Klotz aus pragmatischen Gründen; dem „Land eines deutschen
Stammes“ hätten sie nicht gegolten.1000 Die Schweiz hingegen befürwortete
989 venus, Rudolf Henz, 6 f.
990 binder 1982, Karl Maria Stepan, 164 und 168.
991 H. dachs, Österreichische Geschichtswissenschaft, 97 f.; ramhardter, Geschichtswissen-
schaft, 11–17.
992 santifaller, Oswald Redlich, 159; winKelbauer, Oswald Redlich, 409.
993 redlich, Ausgewählte Schriften, 73.
994 ADÖ 1/15 A; vgl. Kindermann, Österreich, 33 f.; Potočnik, Bewusstsein, 36, 47–49 und 75 f.
995 Kindermann, Österreich, 35; Potočnik, Bewusstsein, 127.
996 Gehler, Der lange Weg 1, 16; GoldinGer/binder, Geschichte, 73–83; sKalniK, Auf der Su-
che, 99 f.
997 brucKmüller, Nation Österreich, 292.
998 Potočnik, Bewusstsein, 67–72 und 144; steininGer, 12. November 1918, 99 f.; suPPan, Mit-
teleuropa-Konzeptionen, 173–175.
999 reichhold, Kampf, 18–36.
1000 KlotZ, Sturm, 20–23.
6.8 ÖSTERREICHBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALSOZIALISMUS 397
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580