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die Eigenstaatlichkeit Österreichs und versuchte politisch in diesem Sinn zu
agieren.1001 Im Februar 1930 konstatierte Bundeskanzler Johann Schober
bei seinem Besuch in Rom ein Nachlassen der Anschlussbegeisterung und
das Aufkommen eines Österreichbewusstseins, das die Regierung bewusst
pflege.1002
Nach Parteien betrachtet, war die CSP die am meisten gespaltene1003,
während die Sozialdemokraten den Anschluss schon deshalb wünschten,
weil er der Idee der Internationale diene.1004 Für die Deutschnationalen war
dieser ohnehin die einzig denkbare Lösung.1005 Das 1931 lancierte Projekt
einer Zollunion mit Deutschland kam nicht zur Verwirklichung.1006
Kein Einzelfall war, gerade in Kreisen des höheren Beamtentums, Hans
Schlitter, der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, der 1915–1918
für die Unabhängigkeit Österreichs eintrat, dann aber, unter dem Eindruck
der Kriegsfolgen, den Anschluss befürwortete. Sein Ziel blieb gleichwohl die
Weckung eines eigenständigen Österreichbewusstseins.1007 Auch Oswald
Redlich war dem Gedanken des Anschlusses zunächst nicht abgeneigt1008; ab
1934, unter dem Eindruck der Ereignisse in Deutschland, trat er aber für ein
unabhängiges Österreich ein.1009 Ähnliches gilt für Richard Meister, der, wie
er in seiner Selbstbiographie von 1952 erläuterte, mit dem Erstarken des
Nationalsozialismus seine gesamtdeutschen Neigungen aufgab.1010
Otto Ender ließ noch 1933, kurz vor seiner Berufung ins Kabinett Doll-
fuß, eine anschlussfreundliche Haltung erkennen.1011 Dasselbe ist lange Zeit
1001 ZauGG-Prato, Die Schweiz, 295 f.
1002 ADÖ 6/1005.
1003 Überblick über die Entwicklung des Anschlussgedankens im christlichen Lager: reich-
hold, Kampf, 37–49.
1004 KlotZ, Sturm, 21; blänsdorf, Österreich, 190 f.; brucKmüller, Nation Österreich, 303;
hanisch, Demokratieverständnis, 77 f.; Potočnik, Bewusstsein, 95–99; N. schausberGer,
Österreich, 285; tálos, Handbuch, 479 (H. haas); wohnout, Bürgerliche Regierungspar-
tei, 192 f.
1005 blänsdorf, Österreich, 184; Kann, Nationalitätenproblem 1, 98; N. schausberGer, Öster-
reich, 288.
1006 KlotZ, Sturm, 22; vgl. bertolaso, Die erste Runde, 46; bracher, Nationalsozialismus, 19;
KereKes, Abenddämmerung, 93 f.; Kindermann, Österreich, 39; Potočnik, Bewusstsein,
146 und 154 f.; reichhold, Kampf, 30; schmölZer, Beziehungen, 29–32 und 36–40; stei-
ninGer, ... paneuropäisches Mäntelchen.
1007 Kraler, Gott schütze Österreich, 35–39.
1008 redlich, Ausgewählte Schriften, 51; vgl. H. dachs, Österreichische Geschichtswissen-
schaft, 104 f.; Kriechbaumer, Erzählungen, 165–169; ramhardter, Geschichtswissen-
schaft, 179; santifaller, Oswald Redlich, 189 f.; winKelbauer, Oswald Redlich, 413.
1009 santifaller, Oswald Redlich, 190; winKelbauer, Oswald Redlich, 410.
1010 breZinKa, Pädagogik, 398.
1011 wanner, Otto Ender, 166. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN398
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580