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anlastete, „die dargebotene Hand des Deutschen Reichskanzlers zurückge-
wiesen“ zu haben1053, verkannte, dass die Ablehnung des Anschlusses für
Schuschnigg, den konsequenten Gegner des Nationalsozialismus, mehr noch
als aus politischen aus weltanschaulichen Gründen selbstverständlich sein
musste.1054
Dem auf die Selbständigkeit Österreichs bedachten einheimischen Adel
verlieh Alfred Johannes Rességuier de Miremont eine Stimme, der im „An-
schluss“ eine „Preisgabe des eigenen Landes“ erblickt hätte.1055 Ernst Karl
Winter argumentierte mit den natürlichen Bindungen Österreichs an die
Nachfolgestaaten der Monarchie: Der Anschluss Österreichs an das Deut-
sche Reich würde die europäische Ordnung in unerträglicher Weise stö-
ren.1056 In den Vorarbeiten zu einer Geschichte des österreichischen Volkes
schrieb er, dass dieses „kein deutscher Stamm ist“, […] sondern einzig und
allein die österreichische Nation“, […] dass es jedenfalls bestimmt nicht zur
‚deutschen Kulturgemeinschaft‘ gehört“.1057
So groß das Unbehagen über die Friedensregelung von 1919 war, so be-
herzt waren die Versuche, mit der neuen Situation zu leben, wie beispiels-
weise an Leopold von Andrian sichtbar wird. Dieser Dichter gehörte zu den
führenden Mitgliedern des ab 1914 im Arbeitszimmer von Hans Schlitter
sich versammelnden „Dienstagsvereins“, in dem altösterreichisch gesinnte
jüngere Beamte und Diplomaten auf die Entscheidungen des Außenmi-
nisteriums Einfluss zu nehmen versuchten.1058 In den Bestimmungen von
Saint-Germain sah er eine Verletzung „naturartige(r) Gesetze geschichtli-
chen Geschehens“1059, aber in seinem Katechismus der Fuehrenden ließ er
einen Heimwehroffizier den Satz aussprechen, der Zerfall der Monarchie
könne auch etwas Gutes haben, weil nur das klein gewordene Österreich die
Möglichkeit biete, einen alle „Stände“ umfassenden Patriotismus zu schaf-
fen; für seinen geistlichen Gesprächspartner war dies ein Grund, sich insge-
samt zuversichtlich zu äußern.1060 Andrians 1937 erschienenes Werk ist ein
Zeugnis seiner Reflexionen über ein übernational verstandenes Österreich-
1053 rintelen, Erinnerungen, 316; zu Rintelen aGstner/enderle-burcel/follner, Österreichs
Spitzendiplomaten, 388–390, zu seinen machtpolitischen Ambitionen Karner, Steier-
mark, 20–22.
1054 K. schuschniGG, Requiem, 186.
1055 NR 21. 8. 1921 (A. J. resséGuier de miremont).
1056 heinZ, E. K. Winter, 65, 111 und 270; vgl. blänsdorf, Österreich, 193; buchmayr, Der
Priester, 108 f.; heiss, Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“, 464.
1057 Winter ePPel, Österreicher 2, 502.
1058 fellner, Denkschriften, 227; Kraler, Gott schütze Österreich, 34 f. und 66.
1059 Prutsch/ZeyrinGer, Leopold von Andrian, 487.
1060 v. andrian, Oesterreich, 408–418; vgl. Johnston, Der österreichische Mensch, 263.
6.8 ÖSTERREICHBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALSOZIALISMUS 403
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580