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Ihre Verfechter hatten allerdings verdrängt, dass der Untergang des Al-
ten Reichs von den Zeitgenossen keineswegs als Zäsur empfunden wurde –
geschweige denn als epochales Ereignis wie der Zerfall der Monarchie. Auch
dass die zentralistische Politik Österreichs im 19. Jahrhundert in Gegensatz
zur Reichsidee stand und dass das Alte Reich bis 1848/49 im öffentlichen
Bewusstsein nicht präsent war1080, schienen sie zu ignorieren, desgleichen
das Faktum, dass die Komponente „Reich“ in der politischen Nomenklatur
für die gemeinsamen Behörden seit den späten sechziger Jahren zunehmend
auf Widerstand stieß.1081
Was gerade in Österreich am Sacrum Imperium so faszinierend erschien
und was die Berührungspunkte mit dem ständischen Gedanken ausmachte,
war – abgesehen vom christlichen Universalismus1082 – das „System kom-
plementärer Staatlichkeit“ (G. Schmidt), in dem die Herrschaftsrechte nicht
beim Kaiser konzentriert waren und sich daher auch als politische Kraft
nicht mit dem Staat verbinden konnten. Daher verkörperte das Reich ein
Gegenmodell zum absolutistischen Fürstenstaat.1083 „Das Reich ist dort, wo
der Staat scheitert“, umschrieb Erwin Reisner den Gedanken prägnant, und
es sei etwas, das „auf jeden Fall außerhalb des Bereiches menschlicher Pläne
liegt, weil es die geforderte schöpfungsmäßige Form ist, die sich dem Zugriff
des Geschöpfes entzieht“.1084 Karl Anton Prinz Rohan schätzte am Reich,
dass es „ohne Macht, nur vom Geist, von der Gerechtigkeit aus“ regiert wor-
den und nie auf Grenzen bezogen gewesen sei.1085
Der von Gott begnadete, also an eine natürliche Ordnung gebundene Kaiser
stand für das Personalitätsprinzip.1086 Auch die Vielgestaltigkeit dieses Gebil-
des mit seinen zahlreichen Sonderregelungen, die Rechtsvielfalt1087, die Flexi-
bilität und die Offenheit für pragmatische Lösungen1088, der insgesamt stän-
dische Charakter1089 und nicht zuletzt der Charakter des alten Reichsrechts,
grundsätzlich dafür zu sorgen, „dass alte Strukturen durch neue nie ganz be-
1080 cole, Il Sacro Romano Impero, 273; maZohl/schneider, Translatio Imperii, 109.
1081 Nur im cisleithanischen Teil der Monarchie blieb sie in den Bezeichnungen für viele Ver-
bände und Organisationen erhalten; hier gab es auch weiterhin den „Reichsrat“ und das
„Reichsgericht“; G. stourZh, Der Dualismus, 1191–1194.
1082 cole, Il Sacro Romano Impero, 265; maZohl, Il Sacro Romano Impero, 63 f.; noser, Die
historische Tragik, 219–222; seefried, Reich, 148–151.
1083 buschmann, Kaiser, 59; hanisch/urbanitsch, Prägung, 98; lanGewiesche, Was heißt, 33;
maZohl-wallniG, Zeitenwende, 191 und 219; maZohl, Il Sacro Romano Impero, 71–76.
1084 reisner, Das Reich, 94.
1085 NR 4. 5. 1929 (A. rohan).
1086 roellecKe, Das Ende, 106.
1087 maZohl-wallniG, Zeitenwende, 237.
1088 KamPmann, Das Heilige Römische Reich, 720 f.
1089 maZohl-wallniG, Zeitenwende, 217 f. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN406
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580