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„Habsburg ist ein übernationales Element und muss es bleiben, oder es wird
nicht sein“.1311 Alexander Lernet-Holenia erklärte den übernationalen Cha-
rakter des Reichs ebenfalls aus der Überwindung des Individualismus1312,
der Haltung, die – so schließt sich ein Kreis – nach Thomas Mann/Naphta
(Kap. 5.6) den „Kult des Nationalen“ und das „demokratische Imperium“
ausmache.1313
Die Rolle des Staates gegenüber der Nation betonte Hans Karl Zeß-
ner-Spitzenberg in der Einleitung zum Sammelband Österreich und die
Reichsidee.1314 Er unterzog den Begriff „übernational“ einer subtilen seman-
tischen Analyse:1315 Er bedeute weder „antinational“1316 noch „international“,
der so bezeichnete Staat bejahe und fördere jede Nation, fasse sie „viel wär-
mer und viel tiefer zu einer in sich geschlossenen Einheit“ zusammen als es
die bloße Internationale könnte, verstehe sich als Schicksalsgemeinschaft
über den Nationen. Während die Internationale von nationalen Belangen
absehe, gehe der übernationale Staat von diesen aus und bewahre sie nach
dem Vorbild der Familie. Damit würden Egoismus und Individualismus
überwunden. Ein übernationales Reich werde nicht wie ein Nationalstaat
von den individuellen Kulturkräften einer Nation getragen, sondern von
allen seinen Völkern, die als Glieder eines harmonischen Ganzen verstan-
den werden. Das entgegengesetzte Modell erblickte er im „Nationenbeherr-
schungsstaat“, den das Vorhandensein eines Herrenvolks kennzeichne.
Österreich habe sich diesem Typ unter Josef II. genähert1317, „aber diese
Erscheinungen waren Entgleisungen in der österreichischen Idee“.1318 Ein
aktuelles Beispiel sei das moderne Italien, wo ein fundamentaler Fehler des
Nationalstaates sichtbar werde, nämlich der auf die Nation übertragene In-
dividualismus. Die eigentliche Kulturleistung des übernationalen Staates
liege in seinem Streben nach Gleichberechtigung aller beteiligten Nationali-
täten. Die Rolle des Hauses Habsburg im übernationalen Österreich sei die
eines Einigungsfaktors gewesen, ausgestattet mit der dafür nötigen Autori-
tät. Für Zeßner-Spitzenberg war es eine „väterliche“ Autorität – womit nun
1311 brandl, Ein Reich, 256.
1312 mayer, Wunscherfüllungen, 109.
1313 Kröll, Der Bürger, 279; zu Thomas Manns (treffendem) Reichsverständnis vgl. hoor,
Wandlungen, 434.
1314 wolf/heiliG/GörGen, Österreich und die Reichsidee, 6 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
1315 waltersKirchen, Blaues Blut, 72; wohnout, Hans Karl Zeßner-Spitzenberg, 7.
1316 Franz Brandl verwendete die Begriffe „übernational“ und „anational“ zwar nicht erklär-
termaßen, aber faktisch synonym; brandl, Ein Reich, 256 und 531.
1317 Zum negativen Image dieses Herrschers im Ständestaat vgl. suPPanZ, Österreichische
Geschichtsbilder, 201–203.
1318 H. K. Zessner-sPitZenberG, Das Völkerreich, 64. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN430
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580