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auch der häufig von ihm verwendete Begriff „Völkerfamilie“ erklärt ist. In
der dadurch möglich werdenden, als notwendig erkannten Koexistenz zahl-
reicher Kleinvölker und Volksteile liege der Kern der sogenannten österrei-
chischen Idee. Im Ineinandergreifen verschiedener Kulturkreise im Vielvöl-
kerstaat sah er allerdings auch eine mögliche Ursache für Ungerechtigkeit,
zumal dann, wenn die beteiligten Nationalitäten auf verschiedener Kultur-
stufe lebten und wenn zwischen ihnen soziale Gefälle bestünden.1319
In Kaiser Karl fand Zeßner-Spitzenberg einen Herrscher, der sich als „Va-
ter der vielsprachigen Völkerfamilie“ empfunden habe.1320 Eine „mechani-
sche(n) Zerreißung nach bloßen Siedlungsgebieten“ ablehnend, habe er nach
einer Synthese zwischen historischen Rechten der Länder und personeller
nationaler Autonomie gesucht1321; ausgestattet mit „kulturelle(r) Eigenstän-
digkeit [...] auf seinem angestammten Heimatboden im Rahmen der alle
umfassenden Völkermonarchie“, sollte jedes Land „harmonisch eingebettet“
sein in „ein großes, starkes Gesamtreich“.1322
Ein „sehr häufig deutlich übernationales Wirken, das so viele von ihnen
zu echten Symbolen und Patronen für Österreichs abendländische Funktion
macht“, bescheinigte der tief religiöse Zeßner-Spitzenberg den Heiligen: Es
sei geradezu ihr kennzeichnendes Merkmal.1323
Die politische Entwicklung nach 1866 war nicht nach den Vorstellungen
des Freiherrn verlaufen. Der Dualismus in der 1867 gefundenen Form habe
es nicht erlaubt, „das übernationale Kaiserreich in der organisch aus der
römisch-deutschen herausgewachsenen Form der österreichischen Völker-
familie zu vollenden“.1324 Im „Versäumnis eines rechtzeitigen organischen,
daher voll befriedigenden Ausgleichs zwischen Gesamtreich, historischen
Staatsrechten, Kronlandsindividualitäten und übernationaler Ordnung“ er-
kannte Zeßner-Spitzenberg den inneren Grund für ihren Zerfall:1325 Hieraus
sei das Bild des „Völkerkerkers“ entstanden.1326 Sein Weggefährte in der Ös-
terreichischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, Hermann Mathias
Görgen, bedauerte, dass mit 1867 „eine Zeit der Vorherrschaft der Magyaren
über die anderen Nationen und der Unterdrückung ihrer sprachlichen und
1319 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Das Völkerreich, 60–69.
1320 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Kaiser Karl 1953, 126.
1321 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Kaiser Karl 1927, 138.
1322 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Kaiser Karl 1953, 121 und 124.
1323 CS 28. 10. 1934 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
1324 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Kaiser Karl 1927, 131.
1325 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Die Zukunft, 289 f.; vgl. sutter, Probleme, 560.
1326 H. K. Zessner-sPitZenberG, Das Völkerreich, 77–79; CS 18. 3. 1934 (H. K. Zeßner-sPitZen-
berG).
6.8 ÖSTERREICHBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALSOZIALISMUS 431
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580