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Arbeit und Gemeinschaft in kleinen Strukturen
Die berufsständische Ordnung müsse, wie in Vogelsang’scher Tradition Karl
Lugmayer betonte, auf Gruppen beruhen, deren jede nur so groß sein dürfe,
dass ihre Mitglieder ihre persönlichen Verhältnisse noch kennen.90 In diesen
fänden die Menschen aus ihrer Vereinzelung heraus, und durch die Erfah-
rung, dass die Rechtsordnung mit dem Gewissen zusammenhänge, steige
ihre Empfänglichkeit für das Recht.91 Ein Unternehmen beruhe auf densel-
ben Prinzipien wie die Familie, daher sollten die Mitarbeiter in möglichst
inniger Gemeinschaft verbunden sein.92
Das Ideal der auf persönlicher Nähe beruhenden Gemeinschaft ist in
einem umfassenden sozialpolitischen Kontext zu sehen. Franz X. Eggers-
dorfer lehnte den zwischen Individuum und Staat sich bewegenden Wohl-
fahrtsstaat, der das einem jeden Zustehende präzise berechnen zu können
glaubt93, als geradezu kommunistisch ab: Zwar gebe es eine „Weltökonomie“
Gottes, der alles trage, aber Gott fordere auch die Mitarbeit der Kreatur an
seinem Weltenplan. Wirkliche Wohlfahrt jedes einzelnen Menschen könne
nur durch die kleinsten Glieder im Organismus erreicht werden. Als Ideal
nannte er die Familie und die sie ergänzende caritas; wirtschaftlich sei der
Betrieb die kleinste Einheit, dessen gesündeste Urform der Bauernhof, der
den Knecht auch in der weitgehend arbeitsfreien Zeit erhalte.94
Kleine Strukturen im Arbeitsleben, so wieder Lugmayer, seien die einzige
Möglichkeit zu verhindern, dass die Beschäftigten in den Status bloßer Ge-
halts- und Lohnempfänger hinabsänken.95 Gerade im Fall des Arbeiters war
der Wunsch dringlich, dieser müsse eine persönliche, innere Beziehung zu
seiner Arbeit haben96, um mehr Verantwortung für das eigene Tun zu über-
nehmen.97 Der konservativ-liberale Nationalökonom Wilhelm Röpke riet von
der Schaffung von Großbetrieben ab, weil sie die Proletarisierung förderten.98
In Lugmayers Äußerung schwingt Spann’sches Gedankengut mit: Dem
Philosophen zufolge müsse sich der Unternehmer zum „Lebensführer“ ent-
wickeln und eine patriarchalische Stellung einnehmen.99 Zwar werde gerin-
90 K. luGmayer, Grundrisse, 91; vgl. streitenberGer, Leitbild, 92.
91 K. luGmayer, Grundrisse, 179–181; vgl. orGler, Ständestaat, 212 f.
92 K. luGmayer, Grundrisse, 155; vgl. Pasteur, Kruckenkreuz, 155.
93 Vgl. PiePer, Über die Gerechtigkeit, 111.
94 SZ 18. 5. 1930 (F. X. eGGersdorfer).
95 K. luGmayer, Grundrisse, 203.
96 K. luGmayer, Grundrisse, 169–173.
97 simonett, Die berufsständische Ordnung, 90.
98 habermann, Das Maß, 40 f.
99 StL 1937, 138 f. (E. hruschKa). 7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG444
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580