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gere wirtschaftliche Produktivität der Preis sein, aber der individualistische
Kapitalismus könne gedämpft werden.100 Der Berufsstand vermittle dem
Arbeitenden das Gefühl der Geborgenheit101, so im Gleichklang mit Leopold
Kunschak102, dem zufolge dadurch auch der Wettbewerb ein menschliches
Antlitz erhalte.103
Franz Waschnig glaubte das gewünschte persönliche Interesse des Arbei-
ters am Betrieb durch Möglichkeiten der Mitbestimmung und eine angemes-
sene Beteiligung am Mehrertrag zu erreichen.104 Friedrich von Weichs for-
derte, der Unternehmer möge als Persönlichkeit besser sichtbar werden.105
Bundeskanzler Dollfuß war für Argumente dieser Art sehr empfänglich.
Er bescheinigte der berufsständischen Idee die Fähigkeit, den Menschen
Wertschätzung zu bekunden und sie „seelisch zusammenzufassen“: Dies sei
nicht gleichbedeutend mit sozialistischem „Gleichschalten“.106 Eindrucks-
voll verdichtet sich die im Berufsstand gegebene Gliederung der Gesellschaft
in dem vom Kanzler gezeichneten Bild des Bauern, der mit seinen Knechten
am gemeinsamen Tisch aus einer Schüssel isst.107 Nüchterner drückte sich
sein Nachfolger Kurt Schuschnigg aus: Berufsständische Ordnung bedeute,
„dass gewisse Barrieren des Misstrauens, die den Arbeitgeber vom Arbeit-
nehmer häufig scheiden, überwunden werden. Der Wille zur Zusammenar-
beit muss getragen sein vom […] Wissen um die Tatsache, dass der eine das
Beste des anderen will.“108
Sachverständigkeit und Selbstverwaltung
Ein häufig vorgebrachtes Argument der Kritiker der parlamentarischen
Demokratie war die mangelnde Sachkompetenz der Mandatare (Kap.
100 GauGer, Gemeinwohl, 96; zur Gegenüberstellung von Kapitalismus und Korporativismus
vgl. beller, A Concise History, 218.
101 Klose, Geistige Grundlagen, 60.
102 KunschaK, Werden, 1.
103 K. luGmayer, Grundrisse, 77 und 143.
104 waschniG, Wirtschaftsreform, 12–14; vgl. dollfuss an österreich, 31 und 191.
105 v. weichs, Der Weg, 30.
106 dollfuss an österreich, 88; vgl. auch Eva dollfuss, Mein Vater, 149; vgl. PytliK, Berufs-
ständische Ordnung, 58; wohnout, Verfassungstheorie, 90.
107 hanisch, Traditionelle Männlichkeitsrollen, 222; Kriechbaumer, Erzählungen, 636; sand-
Gruber, Ökonomie, 398; streitenberGer, Leitbild, 125 f.; waltersKirchen, Dollfuß, 182; ein
Porträt des Kanzlers, das den Nexus zwischen Herkunft und späterer politischer Haltung
akzentuiert, zeichnet böcK, Öffentlichkeitsarbeit, 103–121; zur Kritik von sozialdemokra-
tischer Seite vgl. neGer, Verfassung, 23.
108 K. schuschniGG, Österreichs Erneuerung, 114.
7.4 ASPEKTE DER BERUFSSTÄNDISCHEN ORDNUNG 445
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580