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Das Wort „Interessen“, erläuterte Otto Ender, widerspreche den Grundsät-
zen einer berufsständischen Neuordnung.192 Bundeskanzler Schuschnigg for-
derte, „die Interessen aller Schichten und Berufsstände aufeinander ab(zu)
stimmen“.193 Carl Vaugoin umschrieb „Ständestaat“ mit „Interessenversöh-
nung“.194 Franz Kolb sah das Wesen der berufsständischen Ordnung „unter
dem Gesichtspunkt höherer gemeinsamer Verpflichtungen“.195 Von beson-
ders subtiler Auseinandersetzung mit der Thematik zeugt Karl Lugmayers
begriffliche Unterscheidung zwischen „Gemeinwohl“ und „Allgemeininteres-
se“.196
Georg Baumgartner mahnte, jeder sei zugleich Gebender und Nehmender
und keiner dürfe den Wert der Arbeit anderer unterschätzen.197 Einseitige
Interessenvertretung, so Hans Karl Zeßner-Spitzenberg, widerspräche dem
Bekenntnis zur Pflege von Menschheits- und Persönlichkeitswerten.198 Die
berufsständische Idee bezeichnete er als „sozialen Föderalismus“.199 Rudolf
Kinsky forderte für das von ihm konzipierte Ständeparlament Einstim-
migkeit bei Abstimmungen, denn wenn ein Stand den anderen überstim-
men dürfe, so bedeute dies eine Missachtung des wechselseitigen Aufeinan-
der-angewiesen-Seins.200
Franz Hörburger und Robert Krasser versuchten den Vorrang des Ge-
meinwohldenkens vor bloßer Interessenvertretung pädagogisch umzuset-
zen.201 1919 hatte Paul Schrecker eine von derlei Überlegungen geleitete
Definition von Politik versucht.202 1929 erklärte Ludwig Adamovich, in einer
Ständeverfassung sei die Festlegung des Verhältnisses der Stände zueinan-
der das Wichtigste.203
Später, im historischen Rückblick auf die Maiverfassung, verwendete der
Jurist bei der Beschreibung der Aufgaben der vorberatenden Organe aber
doch das Wort „Interessen“204 – vielleicht weil er die Realität ähnlich wahr-
nahm wie Johannes Messner: „Es wird heute der ständische Gedanke noch
192 PMR VIII/5, Prot. 912/8 (21. 12. 1933), 264; vgl. wanner, Otto Ender, 162.
193 adam, Staatsprogramm, 99.
194 CS 16. 12. 1934 (C. vauGoin).
195 Kolb, Dr. Hans Gamper, 118.
196 busshoff, Dollfuß-Regime, 200.
197 baumGartner, Arbeit und Erwerb, 41 f.
198 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Einführung, 3.
199 CS 18. 3. 1934 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
200 KinsKy, Entwurf, 10.
201 hörburGer/simonic, Lehrbuch II, 11; Krasser, Ständestaat, 17 f.; vgl. iber, Vom Syllabus,
14 und 89.
202 schrecKer, Für ein Ständehaus, 31.
203 PMR VI/1, Prot. 590/1 (15. 10. 1929), 320 und 342.
204 adamovich, Grundriss, 32. 7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG454
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580