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Noch 1934 wurde der Berufsstand Öffentlicher Dienst eingerichtet, eine
reine Arbeitnehmerorganisation, die der Aufsicht des Bundeskanzlers un-
terstand und wenig Selbstbestimmungsrecht besaß.346 Von Anfang an stand
allerdings die Frage im Raum, ob in diesem Fall die Bezeichnung „Stand“ zu-
lässig sei, weil „unendlich viele Einzelinteressen“ berührt würden.347 Richard
Schmitz vermisste einen eigenen Wirkungsbereich, zählte aber auf das tra-
ditionell hohe Berufsethos der Beamten; die innerhalb dieses Berufsstands
bestehenden Unterschiede zwischen Akademikern und einfachen Arbeitern
seien eine lediglich „graduelle Unterscheidung, wie sie fast in jedem Beruf
vorkommt“.348 Für Bundeskanzler Dollfuß war aber gerade dies ein Faktor,
der ihn am ständischen Wesen der Beamten zweifeln ließ.349 Kurt Schusch-
nigg ortete 1935 eine „Überorganisation“350, und Wilhelm Mohr sprach 1937
von „Blutleere“ in diesem Berufsstand.351
Relativ leicht war die Umsetzung der berufsständischen Idee auch in der
Landwirtschaft: 1935 wurde der Berufsstand Land- und Forstwirtschaft
eingerichtet352, auf dessen bündische Vorstufen Johann Blöchl verwies.353
Richard Schmitz erklärte die problemlose Einrichtung dieses Berufsstands
mit der seit jeher tiefen Verankerung ständischen Denkens bei der bäuerli-
chen Bevölkerung354 und wies auf die Bedeutung der Kammern hin.355 Georg
Moth erklärte den Vorbildcharakter der Landwirtschaft für den ständischen
Aufbau mit der tiefen Verankerung des Genossenschaftsgedankens.356 Josef
Reither vermisste aber auch weiterhin ständische Grundsätze.357
346 PutscheK, Ständische Verfassung, 76 und 151–157.
347 PMR IX/1, Prot. 968/5 (28. 9. 1934), 317 und 391; vgl. auGustin, Bauernbünde, 33; reich-
hold, Geschichte, 488 f.
348 R. schmitZ, Die berufsständische Neuordnung, 11 f; vgl. zum hier nicht vorhandenen Ge-
gensatz Arbeitgeber-Arbeitnehmer tálos/manoscheK, Aspekte, 138.
349 PMR VIII/6, Prot. 938 (14. 4. 1934), 422 f.
350 PMR IX/3, Prot. 999/4 (7. 6. 1935), 34. Zu den Diskussionen über das Wesen Berufsstandes
Öffentlicher Dienst vgl. enderle-burcel, Historische Einführung 5, XXXI.
351 wohnout, Verfassungstheorie, 445.
352 braun, Der politische Lebensweg, 285; neGer, Verfassung, 95 f.; PutscheK, Ständische Ver-
fassung, 76; senft, Im Vorfeld, 152 f.
353 blöchl, Lebenserinnerungen, 98.
354 1935 kam dieses Thema im Ministerrat zur Sprache; PMR IX/3, Prot. 999/4 (7. 6. 1935),
29–42; vgl. auGustin, Bauernbünde, 34.
355 R. schmitZ, Die berufsständische Neuordnung, 13; vgl. tálos, Handbuch, 360 und 368 (E.
brucKmüller); kritischer mattl, Agrarstruktur, 289–291; in die 1925 vom Vorarlberger
Landtag errichtete Bauernkammer wurden auch landwirtschaftliche Dienstboten aufge-
nommen; nur die Sozialdemokraten waren der Meinung, diese sollten der Arbeiterkammer
angehören; huebmer, Dr. Otto Ender, 83.
356 moth, Neu-Österreich, 94.
357 KluGe, Bauern, 469. 7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG468
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580