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Die Organe des Berufsstandes Land- und Forstwirtschaft wurden nicht,
wie in anderen Fällen, ernannt, sondern direkt gewählt. Die Einbindung
der Landarbeiter gelang indes nicht durchwegs in befriedigender Weise.358
Sehr bald wurde dieser Berufstand zu einer Domäne des Adels, was de facto
eine Vermischung von Geburts- und Berufsstand bedeutete und dem Adel zu
neuer Bedeutung verhalf.359
Als weitere berufsständische Hauptgruppe waren die Freien Berufe vor-
gesehen. Der Aufbau gelang zwar nicht, die darüber geführte Diskussion ist
aber von grundsätzlichem Interesse. Sie begann schon bei der Definition.360
August Zell glaubte, diesem Stand müssten alle angehören, „die nicht gut
in die übrigen Stände einzuordnen sind“.361 Für Verfassungsminister Otto
Ender362 und für Richard Schmitz363 waren dies Geistliche, Rechtsanwälte
und Notare, Lehrer und Erzieher aller Stufen, Eltern364, Ärzte, Apotheker,
Krankenpfleger, Hebammen, der „Verwaltungsstand“, Schriftsteller und
Künstler. Bei manchen der genannten Gruppen war seit jeher ein ausge-
prägtes, von einem spezifischen Ehrbegriff genährtes Standesbewusstsein
vorhanden, allein es erwies sich als unmöglich, ein für alle gemeinsames
Dach zu finden.365
Im Sinn Paul Schreckers, der den Vertretern der Freien Berufe eine be-
sondere Fähigkeit bescheinigte, den Geist der Zeit aufzunehmen, und da-
her ihre Mitwirkung an der Gesetzgebung forderte366, und entsprechend der
1929 zum Ausdruck gebrachten Einschätzung von Bundeskanzler Johann
Schober, Klerus, Wissenschaft und Kunst wären „die wertvollsten Stän-
de“367, gab Felix Klezl zu bedenken, der Begriff „Freie Berufe“ bezeichne in
erster Linie eine Art der Tätigkeit im Sinn der artes liberales als Gegen-
satz zu den opera servilia – und nicht die Berufsstellung, denn mittler-
weile befänden sich viele „Freie“ im Status von Arbeitnehmern.368 Heinrich
Foglar-Deinhardstein ortete elitär anmutende Züge, die zwar in hohem
Maß ständischen Charakter hätten, aber einer Organisation nicht zugäng-
358 PutscheK, Ständische Verfassung, 134–145; reichhold, Geschichte, 491–493.
359 waltersKirchen, Blaues Blut, 28; waltersKirchen, Adel, 180.
360 PMR VIII/5, Prot. 912/2 (21. 12. 1933), 281.
361 Zell, Ständische Staats-Gliederung, 14 f.
362 PMR VIII/5, Prot. 912/2 (21. 12. 1933), 281; vgl. seliGer, Scheinparlamentarismus, 69.
363 R. schmitZ, Der Weg, 42–46; S. amann, Kulturpolitische Aspekte, 107 f.
364 „d. s. Väter und Mütter ehelicher Kinder, mit denen sie in Hausgemeinschaft leben“; vgl.
Anm. 360.
365 PutscheK, Ständische Verfassung, 164–150.
366 schrecKer, Für ein Ständehaus, 30.
367 PMR VI/1, Prot. 590/1 (15. 10. 1929), 342–344.
368 KleZl, Beruf, 75.
7.5 PROBLEME DER BERUFSSTÄNDISCHEN ORDNUNG 469
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580