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würden; auch Otto Ender lehnte zentralistische Lenkung ab, aber er riet zu
einer differenzierten Vorgangsweise, denn in manchen Bereichen, etwa in
der Kunst, sei eine zentrale Regelung vorzuziehen.386
Intensiver als andere analysierte Richard Schmitz387 die Probleme des
berufsständischen Aufbaus.388 1935 zog er eine umfassende Zwischenbilanz
über das bisher Erreichte, die – jenseits der hier auszusparenden Details –
zu dem ernüchternden Ergebnis führte, dass selbst Grundsätzliches noch ei-
ner Lösung harre: mögliche Überschneidungen zwischen den Berufsständen,
das Nebeneinander von selbständigen und unselbständigen Berufsangehöri-
gen innerhalb der Hauptgruppen, die gebietsweise und fachliche Gliederung
der bereits bestehenden Berufsstände, die Zuständigkeit des Bundes für
diese, das Verfahren der Bestellung der Vertreter. Für die noch zu errichten-
den Berufsstände sei eine weiter reichende Zuständigkeit der Länder vorge-
sehen; dass deren verfassungsmäßige Rechte faktisch stark eingeschränkt
waren, bedauerte er.389
Etwa zeitgleich mit Schmitz äußerte sich auch der Bundeskanzler zum
bisher Erreichten: Er fand die nach rund einem Jahr getroffenen Konsolidie-
rungsmaßnahmen lobenswert.390 1936 schätzte Kurt Schuschnigg die Lage
hingegen sehr nüchtern ein391; viele, so seine Wahrnehmung, hofften, „aus
diesem Gegeneinanderausspielen der verschiedenen Stände irgendeinen
Vorteil ziehen zu können“. Daher forderte er „das Miteinandergehen und die
Miteinanderarbeit aller“.392
Auch Eduard Ludwig führte das Scheitern der berufsständischen Ord-
nung in hohem Maß auf die nicht gegebene gesellschaftliche Harmonie zu-
rück. Er erwähnte Zusammenstöße mit den Agrariern unter Josef Reither
im Herbst 1935393, und mit Bezug auf das Jahr 1936 bemerkte er ernüchtert,
dass die Stände in den ihnen zur Verfügung stehenden verfassungsrechtli-
chen Körperschaften „bereits ihr Eigenleben zu entwickeln“ begonnen hät-
ten.394 Selbst von der VF musste er – zutreffend395 – feststellen, dass sie sich
386 PMR VIII/6, Prot. 938 (14. 4. 1934), 407; huebmer, Dr. Otto Ender, 181; wohnout, Verfas-
sungstheorie, 503.
387 Kritische Würdigung der Abhandlung Der Weg zur berufsständischen Ordnung in Öster-
reich von 1934 bei lacKner, Die Ideologie, 28.
388 PMR VIII/6, Prot. 938 (14. 4. 1934), 423.
389 R. schmitZ, Die berufsständische Neuordnung, 6–8.
390 hoPfGartner, Schuschnigg, 130.
391 schuschniGG, Österreichs Erneuerung, 102 f.
392 schuschniGG, Österreichs Erneuerung, 106.
393 ludwiG, Österreichs Sendung, 183.
394 ludwiG, Österreichs Sendung, 204 f.
395 JaGschitZ, Ständestaat, 504. 7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG472
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580