Seite - 482 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 482 -
Text der Seite - 482 -
zieht468, nicht gerecht werde. Auch für Wolfgang Höfler waren die besagten
Überlagerungen der Grund, warum er bei der Benennung einzelner Stände
Zurückhaltung übte.469
Dietrich von Hildebrand zeigte die Grenzen des Stands philosophisch auf:
Die Einzelperson sei den natürlichen Gemeinschaften ontologisch überle-
gen, weil es nicht die Gliedfunktion allein sei, die sie kennzeichne. Ginge
der Mensch in einer bestimmten Gemeinschaft ganz auf, könnte er gar nicht
Glied einer höheren Gemeinschaft sein. Die Einzelperson sei mehr als das
Glied eines Stands, auch mehr als der Staatsbürger oder der Angehörige ei-
ner Nation. Und wenn, so besäße von allen natürlichen Gemeinschaften die
„Menschheit [...] ein tieferes und der Ewigkeit zugewandteres Thema als Na-
tion und Staat oder gar Stand“.470 Daher ließ er im CS Autoren zu Wort kom-
men, die den Beruf nicht zum entscheidenden Indikator des Wesens eines
Menschen machten.471 Aurel Kolnai erinnerte daran, dass es auch Lage- und
Schicksals-, Art-, Kultur- und Gesinnungsgemeinschaften gebe; die Defini-
tion von „Stand“ als „Leistungsgemeinschaft“ hielt er für verkürzend.472
Guido Zernatto sprach von Gruppen, die nicht nur aus dem Beruf und
der „Stellung“, sondern auch „aus der Nachbarschaft des Geistes [...] zu-
sammengewachsen sind“.473 Der ansonsten wenig flexibel denkende Anton
Thir474 legte am Beispiel der zum Christentum bekehrten Purpurhändle-
rin Lydia dar, dass die Kultivierung religiöser Neigungen auch jenseits des
Berufs, für ihn gleichbedeutend mit Stand, möglich sei.475 Das Wesen des
Menschen auf seine berufliche Funktion zu reduzieren, so Johann Staud,
würde zu einer neuerlichen Akzentuierung der Sozialstände führen.476 Umso
deutlicher musste Karl Lugmayer, der personalistische Philosoph, dem es
um die integrative Vernetzung vieler Bereiche der Gesamtkultur ging477,
die simple Annahme zurückweisen, ein Mensch wäre einzig durch seinen
Beruf bestimmt.478 Wie Othmar Spann479 sah er den Einzelnen in einer fast
unübersehbaren Fülle sozialer Kontexte und als Träger entsprechend vie-
468 hanisch, Die Politik, 55.
469 höfler, Bleibende Stände, 20.
470 v. hildebrand, Memoiren, 257 f.
471 CS 1. 3. 1936 (V. franKl).
472 Kolnai, Ideologie, 22.
473 Zernatto, Die Wahrheit, 36 f.; Zimmer, Guido Zernatto, 106.
474 thir, Frauengestalten 2, 312 f.
475 Apg 16, 15 ff.; thir, Frauengestalten 2, 305.
476 KluwicK-mucKenhuber, Johann Staud, 105.
477 bader, Karl Lugmayer, 12.
478 K. luGmayer, Grundrisse, 138–141.
479 becher, Der Blick, 128. 7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG482
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580