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ler Identitäten. Ihm war auch nicht entgangen, wie sehr sich die diversen
Institutionen im Laufe der Zeit verselbständigt hatten und wie schwierig
die institutionell vermittelten Beziehungen der Individuen zueinander ge-
worden waren, wie wenig homogen die Berufsstände nach innen waren und
wie sehr vieles von Glück oder Zufall abhängt.480 Wie Messner hätte es Lug-
mayer auch bei voller Verwirklichung der berufsständischen Ordnung nie-
mals gutgeheißen, dass der Einzelne einem Stand in unerbittlicher Strenge
zugeordnet gewesen wäre, sich diesen nicht aussuchen und auch nicht aus
ihm austreten hätte können und dass er nicht mehr mit der Totalität seiner
Interessen wahrgenommen worden wäre.481 Der Begriff „Stand“ eigne sich
demnach für jede Form der Bindung.482
Für Franz Rehrl483 und Carl Vaugoin484 hätte die Gleichsetzung von Be-
ruf und Stand ebenfalls eine Reduktion bedeutet. Bezeichnend ist, dass das
Berufsständische im CS insgesamt selten zum Thema wurde. Regelmäßig
wurde hingegen davor gewarnt, die politische Leistungsfähigkeit des Stän-
desystems zu überschätzen.485 Für den Adel, eine im Ständestaat sehr wich-
tige Gruppe, war es ohnehin undenkbar, sich ausschließlich über die berufli-
chen Leistungen zu definieren.486 Auch der konservative Liberalismus nach
dem Zweiten Weltkrieg wusste, dass Wertvorstellungen und Gefühle die
Menschen stärker bestimmen als „Klasseninteressen“.487
Völlig ausgeschlossen war die Deutung von Stand als Berufsstand für
Othmar Spann. Den Begriff „Ständestaat“ lehnte er, sofern er nur die berufs-
ständische Verfassung der Wirtschaft meine, ab.488 Als eine der von Spann
genannten Eigenschaften des Stands sei die „Geistigkeit“ hervorgehoben. In
seinen Alltagserfahrungen vermisste er freilich das „geistige Gepräge einer
ständischen Gesellschaft“.489
Bei aller Wichtigkeit, die Spann dem Staat beimaß, warnte er vor einer
Einebnung der gesamten Bevölkerung gegenüber diesem als dem einzigen
politisch und militärisch Handlungsfähigen.490 Das ständische Prinzip dürfe
480 K. luGmayer, Grundrisse, 140; sPaemann, Personen, 205; vgl. böcK, Öffentlichkeitsarbeit,
135 f.
481 reichhold, Opposition, 14; steiner, Wahre Demokratie?, 154.
482 tarmann, Die Personalität, 35.
483 schreiner, Franz Rehrl, 88 f.
484 reichhold, Carl Vaugoin, 15; vgl. Kriechbaumer, Dieses Österreich, 379.
485 ebneth, Wochenschrift, 20 und 168.
486 waltersKirchen, Adel, 101.
487 habermann, Das Maß, 18.
488 sPann, Der wahre Staat, 238; vgl. ebd., 241; Pichler, Werk, 34; H. walter, Ständewesen, 36 f.
489 sPann, Der wahre Staat, 232.
490 streitenberGer, Leitbild, 157.
7.6 STÄNDE JENSEITS DER BERUFE 483
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580