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schichte: die Revolution des Staates gegen den Menschen!“19, so die Wahr-
nehmung von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi. Für ihn war dies ein
widernatürlicher Zustand, denn Kollektivpersonen gebe es nicht, und der
Staat sei „keine Person, sondern eine Maschine“.20 Als Ideal schwebte ihm
eine Menschheit vor, die ethisch so weit gekommen wäre, den Staat nicht
mehr zu brauchen.21 Er wusste freilich, dass man ihn nicht kurzerhand
abschaffen könne, denn „die Menschheit ist keine Gemeinschaft von Heili-
gen“.22 Beharrlich hielt er an der Forderung fest, der Respekt vor der Person
dürfe nicht schwinden, denn „Gesinnungen sind wichtiger als Verfassun-
gen“.23 Johannes Messner war um die Rettung jener „Gemeinschaftsrechte“
bemüht, „die vor aller staatlichen Anerkennung Geltung haben, weil es
naturgegebene Rechte sind“.24
Die Notwendigkeit der Trennung von Staat und Gesellschaft stand auch
für Othmar Spann nicht zur Disposition. Während die Gesellschaft weitge-
hend unpolitisch sei, oblägen die im engen Sinn politischen Aufgaben dem
von ihr losgelösten „Staatsstand“ als dem „Höchststand“, der Funktions- und
Regulationsdefizite zu kompensieren habe.25 Da jeder Stand unmittelbar aus
dem Ganzen komme, könnten die Stände nicht unmittelbar in Beziehung
zueinander treten, sondern nur über die Ganzheit des Staates. Als etwas
wesensmäßig und sittlich Begründetes habe dieser das Recht, sich in auto-
ritärer Weise über gegensätzliche Elemente hinwegzusetzen. Überwältigen
dürfe er die Stände aber nicht, denn das wäre Totalitarismus.26 Diese Auf-
fassung, die bei manchen Kritikern Bedenken auslöste, wurde von Wilhelm
Andreae unter Hinweis auf die Komplementarität von „Form“ und „Stoff“
erläutert: Da die Form schicksalhaft sei, sei auch der Staat mehr als ein uti-
litaristischer Notbehelf. Eine unstaatliche Gesellschaft könne ebenso wenig
existieren wie ein Kunstwerk ohne Form. Es handle sich also um ontologi-
19 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 17.
20 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 19; vgl. stollberG-rilinGer, Der Staat, passim, bes.
188.
21 coudenhove-KalerGi, Apologie, 72.
22 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 22.
23 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 49.
24 messner, Ordnung, 66.
25 becher, Der Blick, 45; bohn, Ständestaatskonzepte, 37; diamant, Katholiken, 211–214;
heinrich, Schlüsselbegriffe, 354; meyer, Stand, 201; Pichler, Othmar Spann, 42; rassem,
Othmar Spann, 97; resele, Ständestaatskonzeption, 22–25; senft, Im Vorfeld, 84; schnel-
ler, Zwischen Romantik und Faschismus, 46; streitenberGer, Leitbild, 225–239.
26 diamant, Katholiken, 211; heinrich, Schlüsselbegriffe, 351; Kaltenbrunner, Europa, 386;
resele, Ständestaatskonzeption, 18–20; schneller, Zwischen Romantik und Faschismus,
21 und 39; streitenberGer, Leitbild, 222–224; H. walter, Ständewesen, 1 f., 24 und 29–33.
8.1 DIE GESELLSCHAFT ALS ENTFALTUNGSRAUM DER PERSON 489
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580