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sidiaritätsprinzip:76 Diesem zufolge habe er jene Aufgaben zu erfüllen, die
einzelne Personen allein nicht erfüllen können, dürfe sich aber nicht als um-
fassender Wohlfahrtsstaat verstehen.77 Während die linksliberale Forschung
von einer vormodernen Form des Kommunitarismus spricht78, betrachtet
die katholische Soziallehre das Subsidiaritätsprinzip als von Freiheit und
zugleich Verantwortung getragene ordnungspolitische Leitkategorie mit
prinzipiellem Charakter, die – als Gegenmodell zum etatistischen Levia-
than79 – den personalen Charakter sowohl des Individuums als auch der Ge-
meinschaft sichere und, ohne eine universale Handlungsnorm vorzugeben,
das wechselseitige Verhältnis permanent neu auslote.80 Das Konzept geht
auf Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler zurück, das Wort führte Gustav
Gundlach ein.81 Oswald von Nell-Breuning, der Autor von QA, thematisierte
aber auch den hierarchischen Aspekt, indem er von der Stufenordnung der
menschlichen Gesellschaft sprach.82
Johannes Messner forderte, der Staat sollte so viel eingreifen wie nötig,
aber so wenig wie möglich83 – so wie der Solidarismus grundsätzlich klei-
neren Gemeinschaften den Vorrang vor größeren einräumte und es keiner
Gemeinschaft erlaubte, in den Bereich des Einzelnen einzubrechen.84 Hier
kommt jener zentrale Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips zum Ausdruck,
dass die politische Gemeinschaft die engeren Gemeinschaften nicht absor-
bieren, sondern nur umschließen darf.85 Er ist der Überzeugung geschuldet,
76 anZenbacher, Christliche Sozialethik, 147; beyer, Ständeideologien, 133; bohn, Stän-
destaatskonzepte, 50; burGhardt, Das berufsständische Experiment, 226; ebneth, Wochen-
schrift, 147; huber, Die Verfassung, 31; isensee, Subsidiarität, 141 f.; lacKner, Die Ideolo-
gie, 67; meister, Das Verhältnis, 44; Mikluščák, Subsidiarität, 25 f.; orGler, Ständestaat,
215 f.; LK, 546 f. (F. romiG).
77 hense, Der staats- und europarechtliche Gehalt, 413; isensee, Subsidiarität, 131; K. luG-
mayer, Grundrisse, 118; K. luGmayer, Linzer Programm, 56; meister, Das Verhältnis, 48;
R. schmitZ, Der Weg, 25 f.; struber, Österreichs Wiederaufbau, 21; vgl. auch H. dachs,
Franz Rehrl, 221 und 260; reitmayer, Politisch-soziale Ordnungsentwürfe, 52.
78 somma, Der Faschismus, 161.
79 Gabriel, Die Wurzeln, 11 f.
80 härinG, Gesetz, 962; hättich, Wirtschaftsordnung, 36–41; hense, Der staats- und europa-
rechtliche Gehalt, 419; mayer-tasch, Korporativismus, 57–59; A. rauscher, Personalität,
41.
81 hense, Der staats- und europarechtliche Gehalt, 405 f.; nothelle-wildfeuer, Die Sozial-
prinzipien, 157– 161; A. rauscher, Personalität, 38.
82 Gabriel, Die Wurzeln, 16; isensee, Subsidiarität, 145.
83 messner, Ordnung, 63; vgl. auch PytliK, Berufsständische Ordnung, 42; zum staatlichen
Interventionismus im Sinn des Subsidiaritätsprinzips vgl. senft, Im Vorfeld, 75; ähnlich
ilG, Uns alle, 7; vgl. auch Kessler, Ulrich Ilg, 74.
84 messner, Ordnung, 22 f.; vgl. auch beyer, Ständeideologien, 140 f.
85 isensee, Subsidiarität, 138.
8.3 DAS SUBSIDIARITÄTSPRINZIP 495
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580