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dass es Aufgaben gibt, die sich auf der niedrigeren Ebene besser erledigen
lassen als auf der übergeordneten.86 Heinrich Pesch integrierte auch Aspekte
aus Wilhelm von Humboldts Schrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen
der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. So gelang die Verbindung von
katholischem Denken und liberaler Idee des Individuums, die eine sichere
Schranke gegen kollektivistische oder totalitäre Gedanken bildet.87
Othmar Spann trat für das Subsidiaritätsprinzip ein, weil der Staat nicht
die einzige Organisation des Lebens sei88, Benno Karpeles sah darin die
Gewähr, den Staat nicht wieder zum liberalistischen „Nachtwächterstaat“
verkümmern zu lassen.89 Oskar von Hohenbruck forderte, die Berufsstände
sollten im Rahmen des Staates alle Verwaltungsaufgaben übernehmen, die
möglich seien.90 Insbesondere müssten sie in die Regelung der Arbeitsver-
hältnisse eingreifen, dürften diese nicht, wie der italienische Faschismus,
dem Staat überlassen.91 Georg Moth bemühte sich um Popularisierung die-
ses Gedankens.92
Leicht fasslich ist die moraltheologische Begründung des Subsidiaritäts-
prinzips: So wie es auf der privaten Ebene einen ordo diligendi gebe93, könne
in sozialer Hinsicht der ordo caritatis geltend gemacht werden, der das Ver-
hältnis von Eigeninteresse und Solidarität regle. Man berief sich auf Au-
gustinus und Thomas von Aquin, denen zufolge man nicht für jedermann
sorgen könne; Vorrang müssten jene haben, die einem durch irgendwelche
Umstände näher verbunden seien als andere.94
Richard Meister ging ins Detail: Gänzlicher Normierung des Staates
könnten Innen- und Außenpolitik, Polizei, Verteidigung und Rechtsord-
nung unterliegen; das Gegenteil gelte für Wissenschaft, Kunst, Sittlichkeit
und Religion, die auf das Wahre, Schöne, Gute, zusammengefasst als das
„Heilige“, gründeten. Zwischen diesen beiden Zonen liege eine mittlere, die
der Gestaltung des Gemeinschaftslebens sowie von Wirtschaft, Wohlfahrt
und Erziehung.95 Auf gewissen Gebieten könne der Staat nicht nur als Ord-
86 GamPer, Subsidiarität, 112.
87 Gabriel, Die Wurzeln, 13 f.; hense, Der staats- und europarechtliche Gehalt, 416 f.; isensee,
Subsidiarität, 143–145.
88 heinrich, Schlüsselbegriffe, 359; StL 1931, 22–26 (W. andreae); Pichler, Othmar Spann, 22
und 249.
89 KarPeles, Klassenkampf, 11.
90 v. hohenbrucK, Zur Frage, 13.
91 v. hohenbrucK, Zur Frage, 22.
92 moth, Neu-Österreich, 81 und 91.
93 Kustatscher, Haus und Familie, 126–128.
94 KoslowsKi, Liberalismus, 198.
95 meister, Das Verhältnis, 50–55; meister, Das staatsrechtliche Problem, 25–27.
8. STAAT UND
GESELLSCHAFT496
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580