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mit den Worten „Ich wollte ja nur den Frieden“ und erklärte ausdrücklich
dessen Präferenz für Kurt Schuschnigg als Nachfolger.401 Mit sichtlichem
Stolz berichtete er, später sei ihm von Freunden nahegelegt worden, ein
Dollfuß-Bild in seiner Stube zu entfernen402, weil es provozierend wirken
könnte; er habe aber beschlossen, dies nur auf eine offizielle Aufforderung
hin zu tun, und diese sei nie gekommen.403 Josef Reither hatte bereits kurz
nach der Ermordung des Kanzlers darauf hingewiesen, dass in vielen Bau-
ernhäusern „zu ihm als Fürbitter gebetet“ werde, weil er als Programmati-
ker der Agrarpolitik Großes zum Wiederaufbau Österreichs nach dem Krieg
geleistet habe.404
Für Rudolf Henz war die vom Deutschen Reich ausgehende Bedrohung
Grund genug, vorbehaltlos hinter den Ereignissen von 1934 zu stehen: „Zum
‚Ständestaat‘ mag einer stehen wie er will, die Ära Dollfuß-Schuschnigg, den
Versuch, Österreich noch zu retten, mit der Diktatur im Dritten Reich noch
in eine Linie zu setzen, ist grotesk.“405 Im Juli 1934 auch selbst im Blickfeld
der Putschisten, kommentierte er Kurt Schuschniggs während der Trauer-
feier für Dollfuß gefassten Entschluss, das Kanzleramt anzunehmen, wie
folgt: „Die diesen Mann heute noch einer Schuld bezichtigen, nach all dem,
was uns Hitler und seine totalen Konkurrenten seither vorgespielt haben,
haben diese Stunden wahrscheinlich im Ausland miterlebt.“406
Eduard Ludwig407 und Friedrich Funder empfanden für Engelbert Dollfuß
ebenfalls hohe Wertschätzung. Funder sah in ihm den konsequenten Fort-
führer der Politik Seipels408, der im Übrigen mit „jahrelangen politischen
Fehlleitungen verschiedenartigen parteipolitischen Ursprungs“ konfrontiert
gewesen sei.409 Schuschnigg betreffend, verteidigte Funder trotz seiner Geg-
nerschaft zum Nationalsozialismus selbst das Juliabkommen von 1936.410
Hans Karl Zeßner-Spitzenberg hingegen brachte seine Sorge darüber offen
zum Ausdruck; die darauf bezogene Kritik am Kanzler äußerte er aber diplo-
matisch, indem er ihn in dieser Frage als Realpolitiker bezeichnete.411 Guido
401 ilG, Lebenserinnerungen, 20 f.
402 Zur Diskussion um das Dollfuß-Bild im Parlamentsklub der ÖVP, ausgelöst von sozialde-
mokratischen Abgeordneten, vgl. G. hartmann, Der CV, 136.
403 ilG, Lebenserinnerungen, 34.
404 CS 16. 12. 1934 (J. reither).
405 henZ, Fügung, 211 f.
406 henZ, Fügung, 218–220.
407 ludwiG, Österreichs Sendung, 115.
408 Knoll, Von Seipel, 13; Pfarrhofer, Friedrich Funder, 181
409 funder, Aufbruch, 55 f.
410 G. hartmann, Im Gestern, 375.
411 K. P. Zeßner-sPitZenberG, Hans Karl, 66.
8.7 STÄNDESTAAT UND AUTORITÄRES SySTEM AUF DEM PRÜFSTAND 525
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580