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Pädagogen so viel Gehör schenkte, gereicht ihm demokratiepolitisch zu gro-
ßer Ehre: Denn totalitäre Staaten verachten den Intellekt und versuchen
geistige Freiheit nach Kräften zu unterbinden; sie halten das Bildungs- und
Erziehungsniveau bewusst niedrig oder reduzieren es auf technisches Fach-
wissen.22
Dass das eigene System kein „totalitäres“ sei, bemühte man sich im Öster-
reich der dreißiger Jahre in aller Klarheit auszusprechen; „autoritär“ durfte
es eher sein, umso mehr, als ja – entgegen dem überwiegenden Tenor der
geltenden Meistererzählung – die Vorläufigkeit entsprechender Maßnahmen
betont wurde. In diesem Licht sind auch mögliche äußerliche Parallelen zum
Nationalsozialismus zu sehen: Einen weltanschaulichen Gleichklang in den
essentiellen Fragen gab es nicht.23 Auch in diesem Fall findet sich die tref-
fendste Formulierung in der außerösterreichischen Forschung, die bei der
Beschreibung des Unterschieds zwischen dem System des österreichischen
Ständestaats und des Nationalsozialismus von „ultimate loyalities differen-
tiating them“ spricht.24
Die Freiheit der Person respektierte der österreichische Ständestaat auch
dadurch, dass er keine tief greifenden Reglementierungen des Privatlebens
der Bürger oder einen Überwachungsapparat im Stil des nationalsozialis-
tischen Deutschland entwickelte. Kein Bürger wurde vom Staat gleichsam
in seinem Alltagsleben aufgesucht, zum Mitmachen in allen Bereichen zum
Zweck einer Umerziehung gezwungen oder in ein dichtes Organisationsnetz
eingesponnen.25 Diese Beobachtung rückt – darauf hat mit Richard Löwen-
thal ein sozialistischer Intellektueller hingewiesen – das viel kritisierte ös-
terreichische Signum „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“26 in ein neues Licht:
Es ist nicht notwendigerweise das Versinken „in eine bedrohliche Apathie“27,
sondern das Gegenmodell zum faschistischen Anliegen, die Massen mitzu-
reißen28, erinnert an den von Otto Brunner so meisterlich beschriebenen Un-
terschied zwischen (alt)ständischer und moderner Gesellschaft: Jene wün-
sche (vom Staat) Freiheiten, diese die Freiheit (zur Mitwirkung im Staat).29
Dass es den Staat aber doch auch brauchte (als Garanten des Schutzes der
Person), beweist, dass bei ständischen Ordnungen in der Tat stets zwischen
dem funktionalen Aspekt und dem des Wesens von Stand unterschieden
22 Paxton, Anatomie, 313; schneller, Zwischen Romantik und Faschismus, 61.
23 Vgl. P. nolte, Die Ordnung, 162.
24 beller, A Concise History, 225.
25 Zur Kritik dieses Prinzips als lediglich taktischen Zug vgl. newman, Zerstörung, 401.
26 löwenthal, Faschismus [1966], 549–553.
27 charmatZ, Vom Kaiserreich, 217.
28 Paxton, Anatomie, 69, 123 und 317.
29 brunner, Die Freiheitsrechte, 189–192.
9. RESÜMEE: STATUS IST ORDO 535
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580