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werden muss und dass keine Berufsordnung zugleich Lebensordnung sein
kann.30 Die Berufsstände waren, um es mit Leopold von Andrian auszudrü-
cken, lediglich „Surrogate“ der „in ihrer authentisch-aristokratischen Form“
nicht mehr lebensfähigen ständischen Idee.31
Diese Einsicht vermisste Ludwig von Mises bei den Verfechtern des be-
rufsständischen Gedankens: Verfassungstechnische Kunstgriffe seien nicht
geeignet, die Gegensätze, die das Volk zerreißen, zu überwinden; dies könne
nur eine im echten Sinn liberale, d. h. die Freiheit der Person respektierende
Haltung.32 Auch konservative Liberale rieten von der formellen Begrün-
dung eines Ständestaates ab, weil ein solcher, so eine Formulierung Wilhelm
Röpkes von 1945, eine Form von Monopolismus wäre.33
Hier liegt eine Erklärung dafür, dass dieselben Personen, die im Diskurs
über „Stand“ federführend waren und dabei als Bürgen für hehre Werte
auftraten, über das 1933–1938 in Österreich tatsächlich existierende poli-
tische System geteilter Meinung waren, manches schlichtweg ablehnten. In
noch viel höherem Maß gilt dies für den Rest der Bevölkerung, die, zumal in
den Städten dem katholischen Milieu längst entwachsen, auf breiter Basis
auch nicht das intellektuelle Niveau der katholisch-konservativen Eliten er-
reichend und durch die prekäre Wirtschaftslage zusätzlich missgestimmt,
zum größeren Teil nicht hinter dem „Ständestaat“ stand.34 Eben weil Be-
rufsstände so unnatürlich waren, weil sich in der modernen Gesellschaft auf
die Berufe keine Einheit gründen ließ, bedurfte das System der autoritä-
ren Methoden, die es unbeliebt und in vielen Bereichen objektiv anfechtbar
machten.
Die Antwort auf die Forschungsfrage kann daher nicht im Befund des
Scheiterns des ständischen Aufbaus gesucht werden; wenn dieses ein Thema
sein soll, dann nur als Beleg dafür, dass es dem Wesen eines Standes wi-
derspricht, aufgebaut zu werden. Die Antwort ist vielmehr in der Geistig-
keit der politischen Akteure zu suchen. Vieles von dem, was sämtliche den
analysierten Diskurs tragende Personen dachten, ohne es immer explizit zu
sagen, sprach – Jahrzehnte später – Wolfgang Höfler so einfach wie deutlich
aus: Ein Stand sei „durch das innere Band des Verstehens, des Für-wahr-
Haltens, des Unterscheidens, der Erziehung und der Sitte verbunden“.35 Die-
ser Satz erlaubt es, die von Sascha Bohn mit Bezug auf die Weimarer Repub-
30 Gall, Von der ständischen, 4 f.
31 Zit. nach dorowin, Retter, 107.
32 L. von mises, Liberalismus, 152.
33 habermann, Das Maß, 99 f.
34 tálos, Herrschaftssystem (2013), 450–458.
35 höfler, Bleibende Stände, 36. 9. RESÜMEE: STATUS IST
ORDO536
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580