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lik zusammengestellten Definitionen von „Stand“ aus der Zeit zwischen 1919
und 1933, deren Kernaussagen auch im österreichischen Verständnis mit-
schwingen, nach einem qualitativen Kriterium zu ordnen. In hohem Maße
zutreffende Merkmale werden in den folgenden angesprochen: „Teilganzes
der Gesellschaft“, „Gruppen von Menschen […], die durch eine gemeinsame
Stellung im sozialen Leben den übrigen Menschen des gleichen Gebiets ge-
genüber dauernd eine Einheit bilden“, „Verband, der eine bestimmte Auf-
gabe des Gemeinwesens erfüllt“, eine Gruppe, „die als solche vom Staate
anerkannt, in den Staat eingegliedert und vom Staate mit bestimmten Auf-
gaben betraut ist“. Die eigentlich ausschlaggebenden Merkmale kommen
in folgenden Definitionen zum Ausdruck: „Gruppen innerhalb eines Volkes,
welche sich bilden durch die Gleichheit der Lebensweise und die daraus her-
vorgehende Gemeinschaft der Anschauungen, Sitten und Ehrbegriffe“ bzw.
– die höchste Verdichtung und die Quintessenz der vorliegenden Studie –
„Urgestalten des Lebens“.36
In so kompromissloser Weise personalen Werten verpflichtete Menschen
finden nach dem Kriterium der Innerlichkeit zueinander und ähneln sich in
der Lebensauffassung und Lebensweise.37 Als Gemeinschaftswesen im ur-
sprünglichsten Sinn des Wortes ist ihnen das Gefühl des Angenommenseins,
des Schutzes und der Geborgenheit im Kreis Gleichgesinnter wichtiger als
momentaner Vorteil oder gar vitaler Genuss.38 Angelpunkt ist das Gefühl,
Teil einer Gruppe mit denselben Letztwerten und demselben Auftrag zu sein
– und nicht das Bestreben, das eigene Profil in der Konfrontation mit einem
Gegner zu schärfen wie in der Klassengesellschaft. Versteht sich eine solche
Gruppe als handlungsfähige Einheit mit gemeinsamen Rechten und Pflich-
ten (im 20. Jahrhundert nicht mehr Privilegien), wird sie zur Korporation,
zum Stand.39 Standesbewusstsein ist der Garant dafür, dass das Individuum
seine „qualitativ“ (K. Mannheim) verstandene Freiheit nicht missbrauche.40
Vieles spricht dafür, dass die Theoretiker (und Praktiker) des österrei-
chischen Ständestaates wussten, dass sich das Wesen des Standes nicht im
Berufsstand erschöpfen kann. Kein Zweifel dürfte insbesondere für Bun-
deskanzler Kurt Schuschnigg bestanden haben, der schon früh zu erkennen
gab, dass ihm das Weiterbauen am Ständestaat kein vorrangiges Anliegen
war. Die Erfahrung der Ergebnis-, ja Aussichtslosigkeit des Nachdenkens
36 bohn, Ständestaatskonzepte, 17–19.
37 Vgl. K. bauer, Elementarereignis, 143.
38 Nahe kommen dem die Definitionen von Georg Weippert und Franz Jerusalem; bohn,
Ständestaatskonzepte, 39 f. und 46; für Österreich auch wiltscheGG, Heimwehr, 309 f.
39 stollberG-rilinGer, Das Heilige Römische Reich, 23.
40 mannheim, Konservatismus, 116.
9. RESÜMEE: STATUS IST ORDO 537
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580