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20 wie man erwartet, daß der andere erwartet, daß man sprechen wird“14. Dies hat
zur Folge, dass die antizipierten Reaktionen der zuhörenden Person bereits Teil
der Äußerungen der erzählenden Person sind. Diese Grundregel der menschli-
chen Kommunikation gelte auch bei einem Forschungsinterview, das mit seiner
genau festgelegten Rollenverteilung eine Form der asymmetrischen Kommuni-
kation darstellt. Welzer betont, dass in Hinblick auf diesen zwingenden Einfluss
der/des Interviewenden auf das Interview die klassischen Forschungsregeln zur
Führung eines Interviews, wie sie in den Lehrbüchern vermittelt werden, ange-
sichts der stets wirkenden Kommunikationsregeln ad absurdum geführt werden.
Zu diesen Forschungsregeln zählen beispielsweise das Neutralitätspostulat an die
interviewende Person, die strikte Zurückhaltung derselben in der ersten Phase
des Interviews, sowie das Grundpostulat interpretativer Sozialforschung, dass die
befragte Person ihre Geschichte nach Kriterien ihrer eigenen Relevanzsetzung
erzählen kann. Dabei ist gerade diese Relevanzsetzung, wie Welzer verdeutlicht,
Produkt eben der situativen und personalen Bedingungen der Gesprächssituati-
on.15 Die im Rahmen eines Interviews Befragten deuten stets die aktuelle Situation
inklusive der Motive, Fragen, Haltungen der forschenden Person und betrachten
sie als Teil ihrer Wirklichkeit. In der sozialen Situation des Interviews ist der/die
Sprechende nicht nur Subjekt seines/ihres Handelns, sondern zugleich Objekt der
Beobachtung des Gegenübers. In diesem Kontext fordert Welzer die umfassende
wissenschaftliche Auswertung eines Interviews, die vor allem auch die vollständige
Interaktion während des Gespräches zwischen Interviewenden und Interviewten
zum Gegenstand der Auswertung macht.16
Brigitta Schmidt-Lauber beschäftigte sich in mehreren Arbeiten mit den „Grenzen
der Narratologie“ und zeigte auf, dass sich nicht alle Erlebnisse in Geschichten for-
men lassen. Da sich unterschiedliche Erfahrungsdimensionen in unterschiedlichen
Darstellungsmodi präsentieren, können nicht alle subjektiven Erfahrungen einer
Gewährsperson im Rahmen eines Interviews dokumentiert werden. Schmidt-Lau-
ber nennt als Beispiel den Redegegenstand der Langeweile oder des Nichtstuns,
aber auch Alltagserfahrungen von und in Zwischenräumen oder Nicht-Orten.
Zumeist handelt es sich um schwer verbalisierbare, kaum zu Geschichten formbare
Selbstverständlichkeiten der Alltagsroutine.17 Auf Eigenschaften und Grenzen von
Erzählungen soll in Kapitel 1.3. aber detaillierter eingegangen werden.
Bei aller notwendigen Kritik des qualitativen Interviews muss abschließend doch
betont werden, dass es starke Gründe gibt, sich auf die erwähnten immanenten
Problematiken im Rahmen einer Forschung einzulassen. Das Führen qualitativer
14 Welzer, Harald: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung (= BIOS. Zeit-
schrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen. Jg. 13. Heft 1) Opladen
2000. S. 51–63. Hier S. 52f.
15 Welzer: Das Interview als Artefakt. S. 53.
16 Welzer: Das Interview als Artefakt. S. 61.
17 Schmidt-Lauber: Grenzen der Narratologie. S. 150f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439