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des Kinderspiels „Stille Post“, mehrmals, auch in größeren Zeitabständen, wieder-
holt werden. Der Geschehensverlauf der märchenähnlichen Geschichte mit dem
Titel „The War of the Ghosts“ wich deutlich von der abendländischen Tradition
eines Märchens ab. Das Verfahren dieses Experiments wurde von Bartelett als
„serielle Reproduktion“ bezeichnet und gewährte interessante Einblicke in den
Prozess des Weitererzählens. Mit jeder Reproduktion kam es, wenig überraschend,
zu starken Variationen der Erzählung. Bartelett zeichnete diese akribisch auf und
konnte im Rahmen einer Analyse der wiederholten Reproduktionen feststellen:
Die Geschichte wurde zunehmend kürzer, ihr narrativer Stil zeitgemäßer und
schließlich – und dies ist in Bezug auf die Wahrnehmung von Erzählsituationen
besonders relevant – bekam sie eine aus europäischer Perspektive logischere und
kohärentere Struktur. Die Untersuchung verdeutlichte eine klare Neigung der wei-
tererzählenden Personen, die gehörte Geschichte nach einem Prinzip des „Sinn-
machens“ zu verdichten, sie also mit eigenem Sinn auszustatten. Bartelett zog
daraus den Schluss, dass vorhandene kulturelle Schemata die Wahrnehmung und
dementsprechend die Erinnerung in so hohem Maße prägen, dass Fremdes auf
subtile Weise zu Eigenem wird.27
Die kulturellen Vorlagen, auf Basis derer Wahrnehmung zustande kommt, sind
vielfältig. Sie umfassen etwa spezifische Erzählstrukturen, Rollenbilder oder
beschreiben Tabus. Nicht zuletzt spielen gesellschaftliche Faktoren eine Rolle, wie
die Fragen nach Klasse, Klassenbewusstsein oder auch dem Bezug zu Kultur, Poli-
tik oder ethnischen Problemen verdeutlichen.28 Häufig sind diese Vorlagen auch
visueller Art. Der Psychologe und Soziologe Harald Welzer zeigte beispielsweise
auf, dass die Wahrnehmung eines Geschehens, von dem dann später berichtet
wird, durch mediale Vorlagen strukturiert wird: „Die biographische Erzählung
von Zeitzeugen ist sowohl in der Erlebnis- wie in der Berichtsituation nach ver-
fügbaren Modellen geformt, die die Erfahrung dann lediglich mit einem so oder
so nuancierten Inhalt variiert, um sie für den Erzähler selbst wie für den Zuhö-
rer zu einer ‚wahren‘, d.h. selbst erlebten und authentisch berichteten Geschichte
zu machen. In diesem Sinne erfinden wohl mehr Geschichten ihre Erzähler als
Erzähler ihre Geschichten.“29 So konnten in umfangreichem Interviewmaterial aus
Oral-History-Projekten „deutliche Spuren der Wirksamkeit der medialen Bilder-
flut auf die individuellen Vergangenheitsbilder“ gefunden werden. Hierbei kann
es sich um Fotografien aus Printmedien, Sequenzen aus Spielfilmen oder auch
27 Koch, Thorsten und Harald Welzer: Weitererzählforschung. Zur seriellen Reproduktion erzählter
Geschichten. In: Hengartner, Thomas und Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Leben – Erzählen. Bei-
träge zur Erzähl- und Biographieforschung. Hamburg 2005. S. 165–182. Hier S. 166f.
28 Frisch, Michael und Dorothy Watts: Oral History und die Darstellung von Klassenbewußtsein. Die
„New York Times“ und die Arbeitslosen von Buffalo. In: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung
und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt a. M. 1980. S. 162–186. Hier
S. 164.
29 Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 20022.
S. 188f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439