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Die Analyse der ausgewählten Erzählsequenzen erfolgt auf Basis einer „Quer-
schnittsauswertung“. Bei diesem Verfahren werden die für relevant gehaltenen
Stellen aus dem Sinnzusammenhang der einzelnen Interviews herausgelöst und
nach sachlichen Kriterien zusammengefügt. Diese Stellen aus den biografischen
Interviews werden für sich interpretiert und direkt auf entsprechende Stellen aus
anderen Interviews hingeordnet.19
Bei der Interpretation wird vor allem die Methode des Vergleichs angewendet.20
Die Voraussetzung dafür ist, dass sich die Befragten in vergleichbaren Sozialisa-
tionssituationen befanden. Der individuelle Erfahrungshorizont kann in diesem
Fall zum Ausdruck von kollektiven Erfahrungen werden.21 Die vergleichbare Sozi-
alisationssituation bzw. der gemeinsame Nenner, auf den sich die jeweiligen Dar-
stellungen beziehen lassen, ist bei den vorliegenden 67 Interviews einerseits der
Lebensmittelpunkt im Montafon und andererseits die annähernd vergleichbare
Lebensspanne. Zwar sind die Geburtsjahrgänge zwischen 1904 und 1946 gestreut,
die absolute Mehrzahl der Befragten – nämlich 48 Personen – wurde allerdings
zwischen 1920 und 1940 geboren. Auf der Basis dieser relativ großen Alters-Ho-
mogenität werden bei Interviewgesprächen bestimmte Erfahrungen automatisch
zu Mittelpunktsthemen, ohne dass die Interviewenden steuernd eingreifen. So
kommen Gewährsleute, die im besagten Zeitraum geboren sind und den Großteil
ihres Lebens im Montafon verbrachten, zwangsläufig auf bestimmte Themenberei-
che wie etwa Armut und Arbeit in der Kindheit, den Zweiten Weltkrieg oder die
Anfänge des Tourismus in der Nachkriegszeit zu sprechen. Schröder stellte in einer
seiner Untersuchungen fest: „Vor allem durch Ähnlichkeiten der Sozialisation und
des Bildungsstands […] entsteht in den Zeugnissen, bei aller Disparatheit der
geschilderten Einzelerlebnisse, eine gewisse Einheitlichkeit der Betrachtungsweise,
eine Kohärenz des Stils in der Auseinandersetzung mit […]erfahrungen.“22 Auf
Basis einer Zusammenstellung aller Interviewausschnitte zu den betreffenden häu-
figsten Themenbereichen werden diese „Einheitlichkeit der Betrachtungsweise“
und die „Kohärenz des Stils“ in Form von Umfang, Struktur, Inhalt und etwaigen
Motiven oder moralischen Botschaften der Erzählungen verglichen. Im Zentrum
der Betrachtung stehen auffallende Wiederholungen oder Parallelen, wo möglich
werden aber auch Beispiele für Ausnahmen oder überraschende, unübliche Erzäh-
lungen mit in die Analyse einbezogen, mit Hilfe derer die Erzähltraditionen um so
klarer umrissen werden können.
Dass es sich bei den befragten Personen um eine relativ homogene Gruppe handelt,
zeigt die Häufung und Ausführlichkeit bestimmter Erzählstoffe. Durch die verzö-
19 Fuchs-Heinritz: Soziologische Biographieforschung. S. 13f.
20 Vgl. Straub, Jürgen: Zeit, Erzählung, Interpretation. Zur Konstruktion und Analyse von Erzähltex-
ten in der narrativen Biographieforschung. In: Röckelein, Hedwig (Hg.): Biographie als Geschichte.
Tübingen 1993. S. 143–183. Hier S. 159.
21 Steinbach, Lothar: Lebenslauf, Sozialisation und „erinnerte Geschichte“. In: Niethammer, Lutz
(Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt a. M.
1980. S. 291–322. Hier S. 319.
22 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 113.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439