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92 1930 geborenen OP beispielsweise übergab ihr Vieh im Frühsommer, wie viele
andere auch, dem Alpvolk, besuchte die Tiere bei Gelegenheit und holte sich im
Herbst ihren Anteil an den erzeugten Milchprodukten. Gleich eingangs weist OP
auf Unterschiede zwischen der heutigen und der früheren Handhabung hin:
OP: Aber von der Alpe hat man es nie geholt, weißt du. Da hat man gespart
bis im Herbst. Heute holt man Käse im Sommer. Und man isst ihn neu. Das
durfte man früher nicht.
I: Erst wenn sie es [das Vieh, Anm.] abgetrieben haben, hat man das dann
auch quasi bekommen?
OP: Ja. Ich meine jetzt … im Frühling, wenn sie auf dem „Unteren“ gewesen
sind, hat man auch, wenn sie auf das „Obere“ sind, in den Alpen, hat man
herunten geteilt. Dann konntest du den Käse holen. Hast du halt auch einen
Käse, zwei, bekommen. Aber was es oben gegeben hat, hast du erst im Herbst
… Und wenn jetzt einer im Sommer einen Käse geholt hätte einmal, weißt
du, dann hat es geheißen, jetzt ist er grad am Verhungern. Oder ein bisschen
Butter. Die Butter hat man alles drinnen gelassen. Und diese Stöcke gemacht.
Diese Butterstöcke. Das sind Stöcke gewesen, so ungefähr 70 bis 80 cm Durch-
messer. Und da hat man jeden Tag diese Butter drauf. Geknetet zuerst, das
Wasser, oder halt die Milch heraus geknetet. Im Wasser geknetet. Und danach
wieder da drauf getan. Immer wieder eine Schicht, auf diesen Stock. Das sind
dann so Stöcke gewesen mit 90 Kilo. Und die sind im Milchkeller drinnen
gestanden, auf einem Tablett, oder halt auf einem Podium. Herum ist ein
„Linicht“73, hat man hinauf gehängt. Da ist oberhalb ein Draht gewesen mit
Ringlein, dass man das vorziehen konnte, dass die Fliegen nicht grad hin-
ein sind, in die Butter. Und im Herbst ist diese Butter gewesen, goldgelb, und
gestunken. Und wenn du sie geholt hast im Herbst, hat jeder so einen ranzi-
gen Knollen bekommen, dazu, vielleicht ein bisschen einen Neuen. Und wenn
du ihn daheim gekocht hast, du musstest hinaus aus der Hütte, so hat das
gestunken. Sogar eingekocht hat es noch gestunken. Und das hat man alles
gegessen. Und eben, wir haben dann ein Kilo geholt, wenn wir im Maisäß
gewesen sind, um zu heuen, dass man ein bisschen etwas gehabt hat, um aufs
Brot zu streichen. Aber dann hat der Senn schon gesagt: „Ah, habt ihr nichts
mehr zu essen?“ Oder Käse! Ja, kannst du dir denken! Einen Käse durfte man
nicht holen. Käse darf man doch nicht „jung“ essen, hat es geheißen. [I lacht]
Der Käse muss eine „Muffa“74 haben.
Auch in dieser Darstellung wird deutlich, dass OP das Besondere an den Verhält-
nissen früher für seine Erzählung auswählt. Eingangs werden die strengen Regeln,
nämlich Butter und Käse erst im Herbst von der Alpe zu holen, der lockeren
Handhabung heutzutage gegenübergestellt, wo man sich bei Gelegenheit einen
Käse holt und diesen sogar frisch isst. Im Kern lebt OPs Erzählung aber von der
73 Leintuch.
74 speckige Rinde vom Sauerkäse.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439