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128 müssen Sie sich vorstellen, ich möcht Ihnen da jetzt ein Foto zeigen, wo ich
12 Jahre alt war. Wo wir auf der Sulzfluh waren. Da sehen Sie einmal – kurze
Hosen, das war saukalt oben, weil es hat fast geschneit, einen Moment lang.
Schau mal, was sie da, meine Schwester, im Rock! Und Strümpfe. Schau mal,
die Mama auch. Nur was man gehabt hat, war ein Mantel, ein Lodenmantel.
Und sonst eigentlich Wollkleidung. Und was ich noch sehr gut weiß, da unten
hatte man Äcker. Weizen, Hafer hat man angebaut, Erdäpfel. Und ich weiß
noch, als noch diese Schmalspurbahn von Schruns nach Partenen gefahren ist.
Da hat man auch immer das Signal gehört, das hat so tüt-tüt-tüt-tüt [schnell
hintereinander] gemacht, den Dampf hat man aufsteigen sehen. Und wir sind
dann noch mitgefahren mit dem Korn zur Mühle rein. In Ding ist die Mühle
gewesen, ah, wo jetzt das Wirtshaus Mühle ist. […] In Gaschurn, ja. Ja, da
war eine Mühle, hat das Mehl mahlen lassen und ist wieder heimgefahren.
Das kann ich mich noch erinnern. Und auch natürlich kurze Hosen und lange
Strümpfe, das war unsere Bekleidung.
In dieser Darstellung werden, Assoziationsketten folgend, verschiedene Themen-
felder angesprochen. Eingangs beschreibt DD verschiedenste früher alltägliche
(und heute nicht mehr praktizierte!) Arbeiten, darauf folgt die Beschreibung der
einfachen Kleidung und schließlich finden die ehemals angebauten Getreide und
ihre Verarbeitung Erwähnung. Gerade für den Erzählstoff „alltägliches Leben“ sind
derartige bunte Aneinanderreihungen typisch. Was der Alltag eigentlich ist und
wie er den Zuhörenden vermittelt werden kann, stellt geradezu eine erzählerische
Herausforderung dar: Denn je eingehender ein Themenbereich beschrieben wird,
desto mehr entfernt sich der „Alltag“ und rückt der konkrete Erzählgegenstand
in den Fokus. Der Alltagsbegriff an sich ist diffus – und muss diffus bleiben –,
das verdeutlichen die Erzählungen der ZeitzeugInnen. Alltag ist nicht zuletzt ein
Komplex von Kleinigkeiten, die gerade deshalb oft unerwähnt bleiben, weil sie
eben alltäglich sind. Schon der Filter der Erinnerung bewirkt, dass vor allem mar-
kante Ereignisse im Gedächtnis behalten werden und auf diese Art retrospektiv das
Leben strukturieren.141 Die von einigen anderen Ausschnitten bereits bekannte,
1926 geborene WD kann als begeisterte Erzählerin auch zum Thema Alltag als
Beispielgeberin herangezogen werden. Sie spannt im nachfolgenden Ausschnitt
einen Bogen von einem besonderen Erlebnis mit dem Gemeindestier, über wel-
ches die Arbeit neben der Tante auf dem Kartoffelacker angesprochen wird, über
Hausmittelchen hin zu „Butzgeschichten“142 und Sprüchen sowie dem Stellenwert
von Religion im traditionellen Gefüge:
WD: Und einen Gemeindestier hat man gehabt, das weiß ich auch noch, der
Nachbar, der Juen Franz, hat einen Gemeindestier gehabt, in der Nachbar-
schaft dort. Und wenn er ihn ausgelassen hat, hat er ihm immer einen Sack
um den Kopf getan und einmal ist ihm der Stier ausgekommen. Und wir haben
141 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 22.
142 Geistergeschichten.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439