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158 BB ist einer der wenigen ErzählerInnen, die einräumen, dass die Verhältnisse in
der Kindheit „gemessen an der heutigen Zeit […] eher Armutsverhältnisse“ waren.
In seinen Ausführungen wird klar, dass die meisten Familien ihre individuellen
Strategien gefunden hatten, wie sie ein Überleben im Montafon sichern konnten
– und auch wenn BB den Terminus „sich über die Runden bringen“ gebraucht,
so entsprach der Lebensstandard wohl jenem der durchschnittlichen Familien im
Montafon jener Zeit. In höher gelegenen und durch das Realteilungs-Erbrecht sehr
kleinstrukturierten Alpentälern wie dem Montafon waren seit jeher die Zuver-
dienste zu den kleinen Landwirtschaften sehr wichtig.201 Darauf wies bereits der
hohe Stellenwert der Erzählungen über die Franzosen- und Schwabengänger hin.
Doch auch in Bezug auf den Themenbereich „Armut“ werden häufig die Zuver-
dienste der Eltern angesprochen. Die Erzählungen bemühen sich zumeist um die
Darstellung, wie viel und schwer die Eltern früher arbeiten mussten und dass es
schließlich doch nur knapp reichte. Im nachfolgenden Fall war es die 1907 gebo-
rene Erzählerin selbst, die durch Tagelöhnen der Mutter zusätzliche Einnahmen
verschaffen konnte:
XX: Und wir waren wirklich arm, aber wir waren nicht anspruchsvoll. Sie hat
dann immer gesagt, „meine Kinder essen, was ich auf den Tisch bringe“. Und
dann sind wir in die Schule gegangen. […] Da hat sie uns von den Schürzen
Kleider gemacht. Hat sie uns Kleider gemacht, hat selber verdienen können
und wir haben keine Not gehabt und waren zufrieden. Und Taschengeld, wie
sie es heute bevor sie in die Schule gehen, vielleicht schon viele Kinder haben,
haben wir überhaupt nicht gekannt. Ich ging mit 26 Jahren in die Schweiz zur
Heuernte, zwei Sommer hintereinander. Und da hab ich die erste Geldtasche
gekauft, damit ich, was ich so bekomme, dann hineingeben konnte. Wir haben
kein Geld gehabt, gar nichts, und wir haben’s auch nicht verlangt. Wir waren
auch … ich bring alles durcheinander.
I: Nein, überhaupt nicht, also ich kann sehr sehr gut folgen.
XX: Wir waren auch noch, als wir aus der Schule kamen, haben wir, meine
Schwester und ich – Sie werden’s vielleicht nicht wissen, was das ist – mit Tage-
löhnen Geld verdient. Also, wir sind zu den Nachbarn, da und dort, haben
geholfen. Da hat man noch keine Maschinen und gar nichts gehabt. Da hat
man alles von Hand gemacht. Den Mist gestreut und die Kartoffelacker, wie
soll ich sagen, hergerichtet. Und da hat man alles von Hand gemacht. Und da
haben dann die Leut gefragt, „kann nicht die Tochter mir helfen kommen?“
Und das und das machen. Und da hat dann meine Mutter gesagt, „also, das
ist ihr zu streng, da kommen beide einen halben Tag“. Wir haben gemeint, wir
müssen durcharbeiten ohne etwas zu sagen bei den fremden Leuten. Und da
haben wir dann das Geld, das wir da verdient haben, gleich wieder der Mutter
gegeben. Dann hat sie gesagt, „jetzt kann ich grad wieder etwas für die Küche
kaufen“.
201 Kiermayer-Egger: Zwischen Kommen und Gehen. S. 21–24.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439