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184 es wurde viel in den Schulen geschlagen. Und zwar von Parzelle zu Parzelle. In
Tschagguns ist es so gewesen, „d’Landr hon gegad d’Latschaur“240 da Kämpfe
geführt. Und hin und wieder ganz „hoorige“241. Also dann Schüler gewesen,
die „met bluatiga Grindr“242 heim sind. Bis uns dann einmal der Schulleiter
Gamon, der Karl, erwischt hat, und den ganzen Haufen zusammen gepackt
hat, und wieder in die Klasse. Und dann sagt er zu mir, ich bin da 14 Jahre
gewesen, sagt er: „CD, was meinen Sie? Was seid Ihr?“ Habe ich gedacht: Ja,
ich kann jetzt nicht gerade sagen, ein Heiliger. Habe ich gesagt: „Herr Lehrer“
[lacht], ah, [3 sec. Pause] nicht Raufbold … ah „Spitzbuben“ habe ich gesagt.
– „Was, Spitzbuben? Das ist ein heiliger Name. Raufbolde, Gauner!“ Und nur
so hat er uns halt. Und dann haben wir tageweise Strafen geschrieben. Haben
wir dann [lacht], haben wir halt Bußen bekommen. Damals hat man noch
vor einem Lehrer „scho Spuntis ghet“243. Ich muss sagen, wir haben auch viel
gelernt bei ihm.
OL ♀, geboren 1927:
OL: Der Lehrer hat wirklich nur Kinder mögen, wo daheim eine „Burschaft“244
gehabt haben und er ist Viehhändler nebenbei auch noch gewesen, Viehhänd-
ler und Schulleiter, und nur die Kinder haben in der Klasse etwas gegolten.
Und wir haben vor der ganzen Klasse den „Bettel ufghet“245, wir haben ja
nichts gehabt, oder. […] Und eben, der Lehrer Bargehr, das ist ein ganz ein
„fürchtiger“246 gewesen. Hat er zu mir gesagt: „Du wirst noch einmal betteln
gehen, wenn die Helene im Fett schwimmt.“ Und die Helene ist dem Bürger-
meister … also, dort ist er Ortsgruppenleiter gewesen. […] Und der Lehrer
Bargehr hat immer zu mir gesagt: „Ja, du wirst noch einmal betteln gehen.“
Und vor drei Jahren ist meine Schwester da gewesen, die ist leider jetzt auch
gestorben, von Basel, und dann hat sie noch einmal nach Braz wollen, wo wir
aufgewachsen sind. Und dann sind wir hineingefahren, und haben die Helene
gesehen. So ein Buckel, so ist sie zum Stall hinunter mit dem Kübel, also so
etwas … Die ist zwei Jahre jünger als ich und hat einen reichen Bauern gehei-
ratet, aber ein stinkfauler Mensch. Er tut gar nichts, alles muss sie tun. Und
da habe ich gedacht, schade dass der Lehrer Bargehr das nicht sieht. Mir geht
es gut, und die muss so wahnsinnig „schaffen“247. […] Und dann hat er einen
Sohn gehabt, den Toni. Und ich habe halt in der vierten Klasse keine Uhr
gehabt. Wir haben im ganzen Haus keine Uhr gehabt, außer im Schlafzimmer
ist so eine lange Wanduhr gewesen. Aber sonst ist nirgends keine Uhr gewesen,
240 die im Tal wohnhaften Schüler haben gegen die in Latschau wohnhaften Schüler.
241 schlimme.
242 mit blutigen Köpfen.
243 Respekt gehabt.
244 Landwirtschaft.
245 als Bettler gegolten.
246 furchtbarer.
247 arbeiten.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439