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sozusagen, mindestens, oder die Leibchen. Und die Hosen müssten über die
Knie gehen. Das andere war unanständig. Ich hab mich nicht sehr betroffen
gefühlt, ich hab mir gedacht, „Die Mama hat mir das angezogen, warum soll
ich jetzt ein Strafe schreiben?“
I: Ja, natürlich. War der schon sehr alt der Pfarrer?
IJ: Das war schon ein älterer Pfarrer, ja. Heut nehmen sie’s nicht mehr übel,
aber momentan … [lacht]. Das waren viele Sachen, die früher, wie soll ich
sagen … denkt man oft. Die Eltern wurden angehalten, die Kinder in die Kir-
che zu schicken: „Und du gehst in die Kirche, wegen dir will ich nicht in die
Hölle kommen“. [lacht]
OP ♂, geboren 1930:
OP: Ich bin auch Ministrant gewesen. Und dann, wir haben einen ganz schar-
fen Pfarrer gehabt. Der Nussbaumer, das ist ein böser gewesen. […] Und ich
bin sonst gut ausgekommen mit diesem Nussbaumer, ganz gut. Aber einmal,
das habe ich ihm nie vergessen, ich bin halt vielleicht sieben Jahre gewesen,
bin in eine Werktagsmesse, im Sommer. Musste ich in diese Messe auch. Und
danach, da hat man das Messbuch „of dem Schraga doma ghet“250. Es ist so
„an Schraga“ gewesen, und da hat man es hinauf gelegt, dass er schön lesen
konnte. Dann musste man den ganzen „Schraga“, oder eine gewisse Seite auf
die evangelische Seite tragen wieder, weißt du. Und ich bin halt nicht grad so
groß gewesen. Da ist es halt doch ziemlich hoch gewesen. Und ich gehe halt
hin und tu das Buch … halt so hinaufgelangt, und ein bisschen schief gehalten.
Und das Buch rutscht weg und fällt auf den Boden hinunter. Jetzt hat er da
schon „an Ruassler glo“251. Und nach der Messe hat er gesagt, ich solle noch
da bleiben. Und danach hat er mich „heragschlaga“252, mit dem Eisenstecken,
weißt du, wo man „tsch, tsch, tsch“ [er macht das Geräusch nach], das Rauch-
fass, Kohlen geschwungen hat, weißt du, dass es Glut gegeben hat. Mit dem
hat er mich danach geschlagen. Ich habe es wirklich nicht „met Fließ to“253. „I
hon’s halt fascht net g’langa möga“254, und dann ist es mir weggerutscht. Dann
hat er mich geschlagen. Das habe ich ihm nie vergessen. […] Nein. Eben sol-
che Sachen sind gewesen, ja „dia hon do Gwahr ghet“255. „Dia hon do Gwahr
ghet.“
RR berichtet im ersten Ausschnitt von einer Begebenheit, die sich lange vor seiner
Lebenszeit zugetragen hatte und von einem Anschlag auf einen besonders unbe-
liebten Pfarrer handelt. Einen Pfarrer zu attackieren sei eine unerhörte Ausnahme
250 auf dem Gestell oben gehabt.
251 war unwirsch; hat gemurrt.
252 geschlagen.
253 absichtlich gemacht.
254 Ich habe es halt kaum erreichen können.
255 die haben da das Sagen gehabt.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439