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194 JJ: Wo ich sechs Jahre alt gewesen bin, da hat der Hitler gerade die Macht
übernommen in Deutschland draußen. Das haben wir nicht so mitbekom-
men. Aber wir haben es insofern mitbekommen, er hat ja das Österreich
damals reif gemacht, damit der Anschluss kommt. Reif gemacht in dem Sinn,
dass er die Tausend-Mark-Sperre eingeführt hat. Und wir haben zum Beispiel
auch immer einen Gast gehabt, einen Deutschen, halt so Fremdenbetten hat
man gehabt. Auf einen Schnall ist das alles total vorbei gewesen. Man kann
sich vorstellen, wie das vielfach auch zur Verarmung da beigetragen hat. Und
das ist vom Hitler, bewusst hat der Zeug gemacht. […]
Arbeitslosigkeit da gewesen, eine gewaltige. Es ist wirklich schlecht gewe-
sen. Aber alles von Deutschland aus gefördert. Das hat er alles … und auch
die Tausend-Mark-Sperre, mit dem ganzen Export, alles. Er hat ja das so
gemacht, dass die hungern danach, dass die anderen [die Nazis, Anm.] her-
kommen. Man sagt immer, ja die haben sich alle gefreut, dass Deutschland
kommt. Aber man hat es zuerst bewusst durch Jahre hindurch … hat man
sie klein gemacht, immer arm gemacht, und haben über den Zaun hinaus
geschaut. Da draußen haben sie Arbeit. Alle haben sie Arbeit.
Der Ausschnitt aus JJs Erzählung zeigt beispielhaft auf, wie die Erinnerungser-
zählungen der ZeitzeugInnen ab diesem Zeitraum beginnen, historisch-politische
Ereignisse zu fokussieren. Während die Politik implizit mehr und mehr in den
Vordergrund der Darstellungen gerät, wird die individuelle Lebensgeschichte eher
hintangestellt bzw. in die allgemeine Historie eingefügt. Darüber hinaus werden
in JJs Erzählung an mehreren Stellen legitimierende Tendenzen deutlich: Die Tau-
send-Mark-Sperre wird als vorrangige Ursache (und gezielte Maßnahme Hitlers)
für den späteren Jubel über den „Anschluss“ an das Deutsche Reich dargestellt.
Der Ablauf der Ereignisse scheint unausweichlich: Auf die Wirtschaftssanktion
Hitlers hin folgten durch das Ausbleiben der deutschen Gäste Armut und Arbeits-
losigkeit im Tal, die ÖsterreicherInnen begannen die Deutschen um ihre bessere
Wirtschaftslage zu beneiden und erwarteten schließlich aufgrund ihrer Armut
sehnsüchtig den „Anschluss“.
Dass die Tausend-Mark-Sperre Teil des von Deutschland geführten Wirtschafts-
krieges war, mit dem Österreich anschlussreif geschlagen werden sollte und durch
den der Fremdenverkehr schließlich zusammenbrach, ist eine bis heute weit ver-
breitete Ansicht vor allem in touristisch geprägten Regionen. Tatsächlich verlau-
fen die durchschnittlichen Nächtigungsstatistiken dieser Jahre für den gesamten
Vorarlberger Raum konstant und finden 1936 sogar zu einem Höhepunkt, was
sich durch den im Aufbau befindlichen Wintersport erklärt, im Rahmen dessen
nicht nur deutsche Gäste angesprochen wurden. Im Montafon waren die Verluste
zwar tatsächlich katastrophal, da man hier dem Trend zum Wintersport noch
nicht Rechnung getragen hatte. Ein erster Einbruch in den Nächtigungszahlen
schlug sich allerdings schon zwischen 1928 und 1931 zu Buche und kann daher
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439