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220 Der Stolz auf die Leistungen, die in der HJ erbracht wurden, zieht sich durch einige
Darstellungen der Kindheit und Jugend durch. Einerseits waren die ZeitzeugInnen
in dieser Lebensphase besonders leicht zu begeistern und gleichzeitig zu manipu-
lieren, andererseits muss festgestellt werden, dass in einigen Fällen die kritische
Distanzierung gegenüber den Jugendorganisationen und manchmal sogar gegen-
über dem Nationalsozialismus auch während der nachfolgenden 60 Jahre schein-
bar nicht erfolgt ist. Der 1930 geborene HH erzählt, im Beisein seiner Frau IH,
zum Beispiel im nachfolgenden Ausschnitt stolz von seiner Position als Fähnlein-
führer, hat bis heute seine Rede anlässlich Hitlers Geburtstag im Kopf und gibt
diese in Ausschnitten sogar im Interview wieder:
HH: Ich war ja der jüngste Fähnleinführer im Bann Dornbirn. Das heißt, ich
war mit 13einhalb Jahren hab ich schon 140 Pimpfe unter mir gehabt. Und
wenn ich dran denk, wenn ich dran denk, ich hab mit 12 Jahren damals – am
20. April hat man die Jungen aufgenommen – und wenn ich …
IH: Hitlers Geburtstag.
HH: Hitlers Geburtstag, ja. Und ich kann mich noch erinnern genau, was ich
damals gesagt habe. Da hat es zum Beispiel … da hab ich gesagt, „mit dem
heutigen Tage und mit diesem Appell werdet ihr nun in das deutsche Jungvolk
aufgenommen. Zum ersten Mal in eurem Leben dürft ihr den Hitler … den
Dienstanzug der Hitlerjugend tragen. Bevor ihr aber aufgenommen werdet,
gebe ich euch noch die Schwertworte mit auf den Weg. Die Schwertworte hei-
ßen, Pimpfe sind hart, schweigsam und treu. Pimpfe sind Kameraden. Des
Pimpfes Höchstes ist die Ehre.“ Das hab ich damals gesagt [lacht].“
Während HH die ideologische Indoktrinierung, deren kritische Reflexion bis heute
kaum erfolgte, unüberhörbar stolz am eigenen Beispiel aufzeigt, thematisiert ein
anderer Zeitzeuge die Manipulation, die er in der Hitlerjugend erfuhr, sowie die
Gewalttätigkeit, die unter den Kindern und Jugendlichen geschürt wurde, wesent-
lich kritischer. Eingangs räumt der 1927 geborene JJ ein, dass die hohe Bedeutung,
die man im Nationalsozialismus den Kindern beimaß, denselben durchaus gefiel:
JJ: Es hat dir schon gefallen, die Umherspringerei. Und ziemlich bald hat es
dann das Jungvolk gegeben. Und die Hitlerjugend. Die einen die sogenannten
Pimpf. Die sind von 10 bis 14 Jahren gewesen. Da musste jeder dazu. Und
was hat man da gemacht? Da hat man in der Turn… wo jetzt das Kino ist,
ist die Turnhalle gewesen. Da musstest du lernen, zu marschieren. Und da
hat es dann … Das ist auch so gleich brutal zugegangen. Da hat es dann die
Sprüche gegeben: „Haut se, haut se, haut se auf de Schnauze, immer auf den
Judengrind“. Judengrind300 hat man damals schon gesagt. Und dann hat es
den Spruch auch gegeben: „Die Wellen schla… gang durchs Rote Meer, die
300 Judenkopf.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439