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236 tag gewesen. Am Dienstag hat der Vater die Einberufung bekommen, sich zu
stellen zum Heer, da und da. Ich weiß nicht mehr wohin. Und dann musste
der Vater telefonieren. Das haben sie ausgemacht. Und am Donnerstag ist der
Ortsgruppenleiter eingerückt für den Vater. Da hat sich das Blatt ganz krass
gewendet. Und dann sagt er zu mir auch: „Bub, jetzt hast du es gesehen, wie
schnell sie einen haben. Erzähl ja nie etwas in der Schule. Und sei still über
das Zeug, was da vorgefallen ist. Niemandem etwas sagen.“
Unüberhörbar stolz erzählt hier CD von seinem „kecken und festen“ Vater, dem er
in dieser Geschichte Standhaftigkeit, aber auch Klugheit und die erforderlichen
guten Netzwerke zu wichtigen Personen attestiert. Dass sich CDs Vater den Ordern
des Ortsgruppenleiters nicht beugte, kann durchaus als Akt des Widerstandes
anerkannt werden. Eng verbunden mit dem Selbstbewusstsein, und vor allem der
Möglichkeit, NationalsozialistInnen im Ort die Stirn bieten zu können, ist in CDs
Erzählung die Tatsache, dass der Vater schwarz schlachtete und das Fleisch und
andere Produkte am Schwarzmarkt handelte. CDs Vater akkumulierte und pflegte
auf diese Weise (soziales) Kapital und Netzwerke. Schwarzschlachten oder andere
Tätigkeiten am Schwarzmarkt werden von den ZeitzeugInnen in den Erzählungen
schon an sich häufig als eine Art des Widerstandes dargestellt, auch wenn hier die
nationalsozialistische Gesetzeslage im Grunde genommen einen Boden für diesen
Wirtschaftszweig bereiteten. Die Tatsache, dass die HändlerInnen am Schwarz-
markt gutes Geld verdienten, kann ihre positive Wahrnehmung in der Erinnerung
der ZeitzeugInnen kaum trüben, da sie auch den eigenen Familien den Genuss
von sonst kaum erhältlichen Produkten ermöglichten. Im Detail soll auf diesen
Erzählstoff im nachfolgenden Kapitel eingegangen werden.
Eine besonders markante Mustererzählung zum Erzählstoff Widerstand thema-
tisiert die sogenannte Volksabstimmung über die Vereinigung Österreichs mit
dem Deutschen Reich am 10. April 1938. Tatsächlich wies Vorarlberg unter den
österreichischen Bundesländern mit 98,1 % Ja-Stimmen die geringste Anzahl von
„Anschluss“-BefürworterInnen auf, generell war die Zustimmung in den Zentren
höher als in der Peripherie.328
Mehrere ErzählerInnen berichten, unter anderem über dieselbe Gemeinde,
von einer konkreten Anzahl an „Nein“-Stimmen, um schließlich aufzuzählen, wer
die „Nein“-Stimmenden gewesen seien. Dabei wird zumeist berichtet, dass die
eigenen Eltern oder der Familie nahestehende Personen gegen den „Anschluss“
gestimmt hätten – die angegebenen Namen decken sich in den Erzählungen der
verschiedenen ZeitzeugInnen allerdings nicht. Diese Tatsache unterstreicht, dass
es sich hier um eine Mustererzählung handelt, die weniger historisch belegbar ist
als sie die antifaschistische Gesinnung der eigenen Familie unterstreichen soll. Als
Beispiel soll nachfolgend die Erzählung des 1929 geborenen KP angeführt werden:
328 Weber, Wolfgang: „Die sich vom Westen nach Osten erstreckende Wurst …“ Aspekte der
NS-Herrschaft in Vorarlberg, Tirol und Salzburg 1938–1945. In: Tálos, Emmerich u.a. (Hg.):
NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2001. S. 260–291. Hier S. 271.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439