Page - 239 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 239 -
Text of the Page - 239 -
239
damit die Viehzahl insgesamt gleich blieb, wurde ein altes Tier geschlachtet. Der
1932 geborene WX bestätigt diese Praxis und zeigt auf, dass sich auch die Schwer-
punkte der Viehhaltung mit den gesetzlichen Regelungen während der NS-Zeit
verlagerten:
WX: Du, die Tante hat, hab ich schon gesagt, ein kleines Grundstück gehabt
und wir haben da für uns Kartoffeln anbauen können und wir haben immer
Ziegen gehabt. Das war ja auch interessant, alle Landwirte da ringsum haben
sehr viele Ziegen und Schafe gehabt. Warum? Da haben sie nichts abliefern
müssen. Milch hat man ja abliefern müssen, auch das Großvieh, wenn man’s
geschlachtet hat. Das Kleinvieh hat man schlachten dürfen. Das hat man mel-
den müssen und dafür hat man keine Fleischmarken mehr bekommen, aber
da ist sehr viel schwarz gegangen. Das hat man wohl gezählt, aber da hat jeder
Bauer nur die Hälfte von dem angegeben, was er wirklich gehabt hat.
WX zufolge nahm die Haltung von Schafen und Ziegen stark zu, da hier keine
Abgaben von den tierischen Produkten vorgeschrieben waren. Auch dass die
Unterschlagung von Abgaben ein sehr verbreitetes Phänomen war, betont WX hier
deutlich. Die meisten Bauernfamilien behielten die unterschlagenen Produkte vor
allem für sich, ein Verkauf bzw. Tauschhandel war vielen vermutlich zu riskant, da
sich hier automatisch ein größerer Kreis von MitwisserInnen ergab.
Während die LandwirtInnen nur geringfügige Mengen ihrer unterschlagenen Pro-
dukte am Schwarzmarkt direkt verkauften, berichten zahlreiche ZeitzeugInnen
von Händlern, die – auf den Schwarzmarkt spezialisiert – bei den LandwirtInnen
die Produkte einkauften, um sie entsprechend teuer weiterzuverkaufen. Eine bis
heute vielen ZeitzeugInnen auch namentlich bekannte Persönlichkeit, die nicht
nur aufgrund der professionellen Schwarz-Metzgerei bei den Bauernfamilien und
dem Schwarzhandel aller nur denkbaren Produkte von sich reden machte, son-
dern auch als Schmuggler und später schließlich sogar Schlepper von Flüchtlin-
gen über die Schweizer Grenze gewissermaßen Montafoner Geschichte schrieb,
ist Meinrad Juen.330 Zahlreiche Anekdoten aus Juens Leben sind bis heute vielen
Einheimischen bekannt und auch immer wieder im Rahmen der lebensgeschicht-
lichen Erzählungen angesprochen worden. EV und UV waren verwandt mit Mein-
rad Juen und hatten daher auch Einblick in die Praxis am Schwarzmarkt sowie in
Juens Geschick für denselben:
330 Hessenberger, Edith: Menschen – Schmuggler – Schlepper. Eine Annäherung an das Geschäft
mit der Grenze am Beispiel der Biographie Meinrad Juens. In: Hessenberger, Edith (Hg.): Grenz-
überschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Aspekte einer Grenze am
Beispiel Montafon-Prättigau. (= Sonderband zur Montafoner Schriftenreihe 5) Schruns 2008.
S. 147–175.
Hessenberger, Edith: Soziale und kulturelle Dimensionen einer Grenze. Die österreichisch-schwei-
zerische Grenze in ihrer Wirkung auf Menschen am Beispiel der Biographie Meinrad Juens. In:
Montfort – Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 61 (2009), S. 132–140.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439