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gefallen ist und man gesehen hat, da hängt’s, da geht es nicht mehr weiter,
da war es so, dass man, wie soll ich sagen, es gab eine riesen Propaganda
natürlich auch. Man hat ja überall Reklame gemacht, wie tüchtig die Deut-
sche Wehrmacht ist und alles. Und wie sie die ganze Welt beherrschen will
und so weiter. Man hat das den jungen Leuten immer vorgepredigt und, wie
soll ich sagen, gesagt, wie das weiter geht. Es gab in jeder Zeitung … es war
ja alles zensiert. Es wurden ja nur die Vorteile dargestellt und nicht die Nach-
teile. Es war auch mit dem Essen am Anfang des Krieges … Es gab wohl sofort
nach Kriegsabbruch diese Lebensmittelkarten. Also, man war vorbereitet auf
den Krieg, im Grunde genommen. Obwohl die Bevölkerung damit überrascht
wurde natürlich. Aber es gab sofort Lebensmittelmarken und vieles andere
auch noch. Es gab natürlich auch Leute … Ich weiß noch, da hat man gesagt,
„Wenn es das noch gibt, dann müsst ihr das kaufen“. Die haben gewarnt vom
Ersten Weltkrieg her. Die wussten, mit der Zeit, wenn es so weiter geht, könnte
alles sparsam werden. Ich weiß noch eine Nachbarin hat zur Mama gesagt,
„Kauf noch Knöpfe, bald gibt es keine mehr! Kauf noch Seifen, vielleicht gibt’s
später keine mehr!“ Ja. […]
I: 39, wie man dann so mitbekommen hat, jetzt geht wirklich ein Krieg los, hat
Ihnen das Angst gemacht?
IJ: Nein.
I: Weil Sie sich gedacht haben, Sie müssen da vielleicht mitkämpfen später?
IJ: Nein, das hat uns keine Angst gemacht. Ich kann mich erinnern, die Nach-
barin hatte … Mein Vater war schon älter, das hab ich schon erzählt, und der
Mann der Nachbarin war jünger, aber er war auch nicht mehr gar so jung.
Und sie hat dann gerufen, „Sei froh, dass du einen älteren Mann hast, der
muss nicht einrücken. Mein Mann muss jetzt einrücken“. Also man hat das,
wie soll ich sagen, als ungut empfunden. Wir waren natürlich dann sehr jung,
wir haben gedacht, „Wir müssen ja eh nicht einrücken, wir sind ja erst 15, 16
Jahre alt.“ Aber bis dann der Bruder einrücken musste, der kam dann in die
Nordfront hinauf, nach Norwegen.
Der Kriegsbeginn wurde, besonders aufgrund der Propaganda, seitens der damals
zumeist im Kindes- oder Jugendalter stehenden ZeitzeugInnen zunächst ein wenig
als Abenteuer empfunden. Die jungen Menschen beobachteten Enthusiasmus, aber
auch Aufregung und Angst in ihrem Umfeld, ohne zu verstehen, was hier eigent-
lich vor sich geht oder auch nur eine Idee davon zu haben, was auf sie zukommen
könnte. IJ blieben etwa die Ratschläge der Älteren im Ort in Erinnerung, die bei-
spielsweise Hamsterkäufe an Knöpfen oder Seifen empfahlen. Die ZeitzeugInnen
berichten von Verwirrung, da man nicht mehr wusste, wem man welche Informa-
tionen glauben konnte. IJ erzählt weiters, dass er zunächst den Krieg gar nicht mit
seinem eigenen Leben in Verbindung brachte, da er sich selbst für zu jung hielt, um
als Soldat eingezogen zu werden.
Ähnlich kindliche Verwirrung geht auch aus den Erinnerungserzählungen des
1934 geborenen CD hervor, der erst nach und nach zu erkennen begann, was die-
ser Krieg eigentlich bedeutete:
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439