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258 Es gab auch keine Verbindung mehr mit der Heimat. Das war die schlimmste
Zeit eigentlich. Sicher, nach der Verwundung, am Anfang, wenn man nach
Hause kam, das war auch schlimm, natürlich. Weil man denkt, was macht
man noch? Es gab schon Zeiten, wo man ins Tagebuch hineingeschrieben hat,
„Oh Gott, könnt ich diese Welt verlassen, an die ich mit meinem verstümmel-
ten Körper gebunden bin.“ Ja. [lacht] Aber es ging dann wieder besser. Nein.
Ich glaub wir haben jetzt lang genug geredet.
Die permanente Unsicherheit, eine ständig wechselnde Umgebung, das Bewusst-
sein des Rückzugs, die vagen Fragen nach einer möglichen Zukunft und schließlich
das Ringen mit dem Schicksal, ein 20-jähriger Kriegsversehrter zu sein, beschreibt
IJ als Faktoren dieser „schlimmen Zeit“. Seine abschließende Bemerkung „Ich glaub
wir haben jetzt lang genug geredet“, der allerdings weitere Erzählungen im Rah-
men des Interviews gefolgt sind, lässt erahnen, dass IJ hier sehr (vielleicht seines
Erachtens auch: zu) persönliche Einblicke in eine der schwierigsten Zeiten seines
Lebens, nämlich die letzten Kriegsjahre und die ersten Nachkriegsjahre, gewährt
hat.
Neben den psychischen Grenzen, an die der Krieg die Soldaten trieb, werden
von den ZeitzeugInnen auch die physischen Grenzen eingehend beschrieben, am
Rande derer sie sich gerade in den letzten Kriegsjahren häufig befanden. Dazu
zählen an erster Stelle die kriegsbedingten Verletzungen, die unter schlechten
sanitären und medizinischen Bedingungen auskuriert werden mussten und mit
denen man, kaum waren sie ausgeheilt, an die Front zurückkehren musste. Der
1918 geborene AA erzählt nachfolgend die Geschichte seiner Verletzung und wie
ihn diese schließlich vor dem Tode bewahrte:
AA: Das ist so ein Stall gewesen, da ist eine Stellung oben gewesen. Und
da ist man hinauf geklettert, und dort hat man durch die Strohdächer ein
Loch hinausgeschossen, dass man mit dem Maschinengewehr hinaus schie-
ßen hat können, oder. Das man da ausgesehen hat. Und ich bin da gerade
oben gewesen und habe da fest gezogen, und wie ich da richtig Licht gesehen
habe, hat es einen „Bätsch“ gemacht, und ich bin unten gelegen. Hat es mich
erwischt, oder. Habe ich einen Lungenstreifschuss gehabt. Und bin dann mit
zwei anderen … also, unsere Ortschaft ist in einem Kessel drinnen gewesen,
da ist es überall hinauf gegangen. Sind wir dann zu dritt zum Regimentsstab
zurück, zum Verbandsplatz. Da haben sie auf der anderen Seite ein mords
Feuer gegeben, aber gottseidank sind wir durch gekommen. […] Ich bin dann
wieder zurück nach Lubnia, ja, das ist da östlich von Kiew, da sind wir dann
gelegen, das ist im Jänner gewesen … bis Mai. Und das ist eine ganze Schule
gewesen, mit lauter Stroh, und da sind dann alle drinnen gelegen, 50, 60 im
Saal drinnen. Aber 80 Prozent lauter Erfrierungen, also im dritten Grad. Ja,
und jetzt kannst du dir vorstellen, wie das gestunken hat, da drinnen. Wenn
du da zugeschaut hast – mir hat das gottseidank nichts ausgemacht – die
haben gewartet, bis das Fleisch zurückgefroren ist, Hände und Füße haben
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439