Page - 262 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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262 IJ ♂, geboren 1924:
IJ: Ja, es war am Anfang mehr ein Stellungskrieg, ich glaub ich hab eh schon
gesagt, wir haben dann wieder mal einen Angriff starten müssen. Es gab
schon Gefallene, das schon, nicht. Aber ich muss gestehen, ich hab eigentlich
nie auf einen Russen geschossen. […] Im Grunde genommen hab ich mir noch
gedacht, „hoffentlich komm ich noch nach Hause.“ Man denkt heute, warum
bist du eingerückt, aber man hat ja nur die Möglichkeit, entweder man rückt
da mit ein oder man bringt die Familie ins Unglück! Eines von beiden. Weil
dann wurde man vernommen und wieder vernommen und man hat überall
nachgesucht. Und wenn sie einen erwischen irgendwo versteckt, dann ist man
sowieso dran nachher. Also man hat gehofft, wenn ich jetzt einrücke, vielleicht
komm ich besser davon. Ich weiß noch, ich hatte gehofft, lieber würde ich nach
Italien kommen an die Front oder nach Frankreich irgendwohin, aber als der
Zug dann Richtung Osten ging, wusste man, jetzt ging’s nach Russland. Das
war eine ungute Sache. Gelt, das war ungut. Naja.
AC ♂, geboren 1925:
AC: Nur, bei den Partisaneneinsätzen muss ich sagen, die reguläre Wehr-
macht hat sich dort [betont nachfolgendes Wort] sicher nichts zu Schulden
kommen lassen. Ich habe nicht einmal gesehen, dass eine Wehrmachtseinheit
Partisanen … Weißt, weil man dann gesagt hat, dass sich die selber das Grab
schaufeln haben müssen, und danach sind sie erschossen worden. Aber nicht
das reguläre Heer. Das könnte ich … Einmal bei uns ist das nicht passiert.
I: Und die SS oder so?
AC: Ja, die schon! [unverständlich] Kettenhunde hat man gesagt, die haben
so Ketten umgehabt.
IJ „gesteht, nie auf einen Russen geschossen“ zu haben. Hier handelt es sich um ein
„Geständnis“, das angesichts einer sich heute überwiegend zu Demokratie und
Frieden bekennenden Gesellschaft beinahe ironisch wirkt. IJ ist sich einer mögli-
chen Kritik seines Soldatentums durch die nachfolgenden Generationen bewusst,
wenn er sich die Frage stellt: „Warum bist du eingerückt?“ und sie anschließend mit
Hinweis auf seine Verantwortung gegenüber der Familie beantwortet und damit
sein Handeln verteidigt.
Auch AC nimmt Bezug auf mögliche (im Interview nicht getätigte) moralische
Anklagen bezüglich etwaiger Wehrmachtsverbrechen an Partisanen. AC verteidigt
sich, indem er die Unschuld der Wehrmacht beteuert („die reguläre Wehrmacht
hat sich dort sicher nichts zu Schulden kommen lassen“) und, wie auch zahlreiche
andere Zeitzeugen, jegliche Kriegsverbrechen sowie andere moralische Fehltritte
der SS zuschiebt.
Bei diesen beiden Ausschnitten handelt es sich insofern um Rechtfertigungsge-
schichten, als auch hier mithilfe praktischer Erklärungen das Verletzen einer
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439