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Da sind Schlangen von Leuten gestanden. Und jetzt bin ich da auch da gewe-
sen. Ja, haben sie: „Komm, du kannst vorgehen, du bist ein Heimkehrer.“ Da
habe ich das erste Mal das Wort Heimkehrer gehört, was das ist. Und dann
hat man natürlich weder Fahrkarte noch irgendetwas gekauft. Ist man in den
Zug hinein gesessen. Und das ist mir auch noch unvergesslich. Da sind Frauen
drinnen gesessen, die haben Brote ausgepackt und Äpfel gegessen und Ding,
aber nicht einen Bissen gegeben. Das hat einem weh getan. Vollgefressene
Weiber, gefuttert, gefuttert. Und unsereinem hat der Hunger aus den Augen
heraus geschaut. Das kann man sich vorstellen, wenn man mit 19 Jahren noch
28 Kilo hat.
Aus dieser Erzählung sprechen vor allem Unsicherheit („wir sind immer nur in der
Nacht gelaufen“), Zerstörung und Chaos („Der Westbahnhof ist ja nur ein Trüm-
merfeld gewesen“) sowie die Erfahrung, auf Menschlichkeit angewiesen zu sein, im
Positiven („Komm, du kannst vorgehen, du bist ein Heimkehrer“) wie im Negativen
(„aber nicht einen Bissen gegeben. Das hat einem weh getan“). Die zentralen, immer
wiederkehrenden Themen sind – wie in vielen anderen Heimkehrergeschichten –
der Hunger und der eigene abgemagerte Körper. Weitere häufig erwähnte Aspekte
der Heimkehr werden in der nachfolgenden Erzählung des 1925 geborenen NM
dargestellt:
NM: Und dann sind wir … in der Nacht sind wir verschwunden von der
Abteilung, die haben sie aufgelöst. Und sind dann hinauf unter einen Baum,
weit hinauf, unter einen Baum hinein. Und dann haben wir dort geschlafen.
Und dann ist noch Regen gekommen. Nass sind wir gewesen am Morgen. Und
dann sind wir noch weiter hinauf und sind zu einer Jagdhütte gekommen.
Und bei der Jagdhütte, da ist alles da gewesen. Zivilkleider sind da gewesen.
Da sind Esswaren herum gewesen. Und die Leute sind auch fein gewesen.
Die haben uns das gegeben. Und dann sind die Amerikaner gekommen. Und
das ist nachher Mitte Mai gewesen. Und ich habe gedacht: „Ja, jetzt holen sie
uns.“ Die haben geredet und haben uns Bilder gezeigt. Der eine ist von Boston
gewesen. Und ich konnte ein bisschen Englisch. Und dann sind sie gegangen.
Und dann kommt wieder einer zurück. Sie seien da in ein Dreckloch hineinge-
fahren, unten. Man solle so gut sein und hinunterkommen und ihnen heraus
helfen. Da habe ich gedacht, das ist jetzt eine Falle Nummer eins, gell. Dann
nehmen sie uns gleich mit. Aber es ist nicht so gewesen. Tatsächlich sind sie in
Not gewesen. Und wir haben denen heraus geholfen. Ja. Und das Gewehr, das
haben wir alles „undr an Gretzahufa ihito“360 [unter einen Asthaufen hinein
getan]. Die müssten heute noch da sein. […]
I: Und wo Sie nachher heim gekommen sind? Können Sie sich an das noch
erinnern?
NM: Ja, ja, sowieso. Ich bin in Dalaas dort bin ich noch zu Verwandten und
habe gefragt, wie es steht überhaupt da. Und da haben sie gesagt: „Ja, ja, auf
360 unter einen Asthaufen hineingetan.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439