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Schuss in den Hintern gegeben! Und derweil hat ein Bauer gewartet, der hat
von mir ein Päckchen Pfeifentabak geholt. Der hat aber müssen den Rucksack
ausleeren und schauen … Und dann habe ich gesagt: „So, jetzt kannst du dei-
nen Tabak ruhig einpacken und da hinunter, jetzt bist du sicher. Der erwischt
dich nicht mehr, der muss jetzt da hinunter auf die andere Alpe.“ [Lachen]
Kulturhistorisch interessant ist hier die Darstellung, dass auch CYs Mutter durch
den Verkauf der geschmuggelten Waren eingebunden war. Zahlreiche ZeitzeugIn-
nen berichten, dass die Schmugglerei häufig ein Familiengeschäft war, bei dem
jeder nach seinen Möglichkeiten und im Rahmen seiner Kontakte mithalf. CYs
Erzählung vom morgendlichen Besuch der Zöllner, kurz nachdem er von einer
Schmuggeltour zurückgekehrt war, sowie seine Beschreibung, wie er den Wiener
Zöllner „lächerlich“ machte, stellen den Höhepunkt seiner Darstellung dar. Die
häufig eingestreuten direkten Reden, seine bildhaften Formulierungen („Und wie
er die gesehen hat, ist er weg, als hätte man ihm einen Schuss in den Hintern gege-
ben!“) sowie der erstaunliche Erzählfluss weisen darauf hin, dass der Zeitzeuge
diese Anekdoten sehr häufig zum Besten gegeben hat und mit seiner Erzählung
meist viele Lacher erntet. Wie in den Lausbuben- und Schulgeschichten der Leh-
rer, kommt in den Schmugglergeschichten dem Zöllner die Rolle des überliste-
ten und oft bloßgestellten Gegenspielers zu, auf dessen Kosten die Erzählungen
zumeist ihren Unterhaltungswert gewinnen.
Neben „Schläue“ wird dem Schmuggler häufig körperliche Stärke attestiert. Zahl-
reiche Erzählungen stellen die großen Anstrengungen der Männer ins Zentrum
ihrer Darstellungen, wenn sie schwer beladen abseits der Wege und in der Dunkel-
heit auf die hohen Berge steigen. Der 1934 geborene DW gibt hierfür ein Beispiel:
DW: Die Familie meines Vaters hatte ja vier Kinder. Und da war ein Bru-
der, der wollte auch einmal mit. Da hat er Kaffee geholt. Und da hat er 25
Kilo Kaffee aufgeladen und das ist viel für die Strecke. Und das in der Nacht.
Und dann hat sein Bruder halt gemeint, ob er auch mit gehen könnte. Der
wollte halt auch grad ein paar Schilling verdienen, wenn er da ein bisschen
Kaffee mit her nimmt. Gut, dann hat ihn der Vater mit genommen und sie
haben Kaffee mitgenommen. Da sind sie über das Gweil daher gegangen. Da
ist man vom Platina den Hang raus und oberhalb, da heißt es Geißtal, und
da sind sie über das Geißtal und das Geißtal runter. Ein Gelände, weißt du,
Steine und Alprosen, Alprosen, Alprosen. Und da sieht man kein Loch und
nichts. Und da unten hat der Bruder von ihm gesagt, er kann nicht mehr. Also,
er war total fertig. Er hat ihn schon bis dorthin immer wieder aufpeitschen
müssen und sagen, „jetzt komm!“, „komm, komm, komm!“. Und dort hat er
gesagt, er kann nicht mehr. Da hätte er den Kaffee liegen lassen. Der Eine hat
nicht mehr gekonnt. Und dann hat der Vater die 25 Kilo nochmal aufgeladen
und ist mit 50 Kilo Kaffee bis da runter, irgendwo. Und dann hat er da oben,
scheinbar gar nicht so weit da oben, hat er ihn dann versteckt. Und hat das
dann später geholt. Aber, vom Geißtal bis da herunter hat er 50 Kilo … und
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439