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358 teten 45 % aller Bergbauernbetriebe im Montafon Zimmer.452 Wie bei KK betraf
die Dreifachbelastung besonders die Frauen in der Familie, und auch nach Wegfall
der Landwirtschaft mussten die Frauen mangels maschineller Unterstützung lange
Jahre von früh bis spät hart arbeiten. Gleichzeitig entwickelte sich die Privatzim-
mervermietung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der wichtigsten Einnahme-
quellen für Frauen im Montafon.453
Die Vermietung von Zimmern war besonders arbeitsintensiv, da man sogar an
den Abenden viel Kontakt zu den Gästen pflegte und diese meist bekochte. Auch
KK erzählt, dass die Arbeit ohne die Mitarbeit ihrer Söhne nicht zu bewältigen
war, ergänzt jedoch, dass ihnen die Arbeit auch nicht geschadet hätte, und räumt
schließlich rechtfertigend ein, dass die Kinder genug Zeit gehabt hätten, um bei-
spielsweise mit den anderen Ball zu spielen.
Die Rollenverteilung war in dieser Zeit meist klar vorgegeben, auch wenn
schlussendlich nur zählte, dass die Arbeit gemacht war, und notfalls alle zusam-
menhalfen. Wie schon bei KK zeigt der folgende Interviewausschnitt die deutli-
che (Über)Belastung der Frauen in den Familienbetrieben. Gerade das folgende
Beispiel, erzählt aus der Sicht des 1918 geborenen AA, verdeutlicht die mangelnde
Wertschätzung der Frauenarbeit:
AA: Ich bin hauptsächlich am Anfang mit der Bauernschaft beschäftigt gewe-
sen, da. Wir haben da die Bauernschaft ziemlich gut hingerichtet da, die alten
Pferdeställe umgebaut für die Schweinezucht. […] Mit der Zeit ist das halt
dann nicht mehr gegangen, weil die Frau ist überlastet gewesen mit der Gast-
wirtschaft.
I: Was hat sie in der Gastwirtschaft so gemacht?
AA: Ja, sie hat hauptsächlich sich mit den Gästen befasst und die Bauernar-
beit habe ich selber eigentlich gemacht. Am Anfang ist sie in der Küche drin
gewesen, aber später bin ich der Küchenchef gewesen mit einem Lehrbuben.
Wie ich die Landwirtschaft dann verpachtet gehabt habe, bin ich als Koch
aufgetreten.
I: Als Quereinsteiger? Oder Ausbildung oder irgendwas?
AA: Ja, habe ich eigentlich nicht gehabt. Ich habe immer mitgemacht und
immer gelernt und überall geschaut dass ich mir was abschauen kann. […]
Das Geschäft ist einmal gegangen.
I: Und die Frau, was hat sie sich mit den Gästen befasst oder befassen müssen?
AA: Ja, die Frau ist diesbezüglich ganz … Man hat halt Stammgäste gehabt,
die betreut werden wollten. Man hat halt gesagt, wenn so ein Stammgast
gekommen ist, dann ist das ganze Haus zusammengesprungen da, dass die
Gäste dableiben. Und dann hat man gehörig Abschied gefeiert. Und die Frau
ist mit der Gitarre gekommen und hat gesungen ein paar Lieder, oder.
452 Kiermayr-Egger: Zwischen Kommen und Gehen. S. 123.
453 Arnold, Christina: Die Montafonerin. Auf den Spuren weiblicher Lebenswirklichkeit vom 16. bis
zum 21. Jahrhundert (= Sonderband zur Montafoner Schriftenreihe 6) Birgitz 2008. S. 120f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439