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WD: Da ist man auf den Bahnhof hinauf, mit dem vierrädrigen „Kärrili“, mit
dem Leiterwagen ist man zum Bahnhof hinauf und hat sie abgefangen. Man
hat einfach geschaut, wer sucht ein Zimmer, und so. Dann hat man sie heim-
gebracht. […] Kommt er an einem Abend mit zwei Holländern daher, mit
zwei großmächtigen Leuten durch die Küchentür, über die Stiegen herauf. Die
haben sich müssen bücken, so nieder ist es gewesen im alten Haus. Und wir
haben gesagt, „wenn ihr möchtet, könnt ihr bei uns mitessen“. Und die haben
gleich mitgegessen. Und die Frau ist immer auf dem Kanapee gehockt und ich
bin hinten im Winkel beim Herd gewesen. Und immer habe ich sie gesehen,
etwas auf den Zettel schreiben, immer hat sie etwas geschrieben und geschrie-
ben. Und dann ist Weihnachten gekommen, und ein riesengroßes Paket! Ein
Schneidemesser, ein Schneidebrett, ein großer Pack Wolle, ein wollener Stoff
für mich und ein Rock, ein fix und fertig gestricktes „Tschöpli“ fürs Büabli,
das ist damals neun Monate gewesen, da habe ich noch Bilder, wo sie das
alles geschickt hat. Spielzeug ist drin gewesen. Und so ist keine Weihnacht
vergangen, ohne dass wir nicht von diesen Leuten etwas geschickt bekommen
haben. Und auch zum Geburtstag. Und eines Tages haben sie uns eingeladen
– da ist der Z. vier Jahre alt gewesen – nach Holland zu kommen. Die Fahrt
haben wir müssen selber zahlen, aber in Holland hat man uns sogar Sackgeld
gegeben, und zwei Fahrräder von ihnen, und wo wir ins Haus gekommen
sind, haben wir groß geschaut: Derweil ist das der Chefsekretär gewesen von
der Regierung! Ein wunderschönes Haus, Teppiche bis zum Dachboden hin-
auf, ein dreistöckiges Haus, also einfach … Behandelt hat man uns als wie
das eigene Kind – besser als das eigene Kind. Wenn wir am Abend ins Bett
sind, hat er uns unter uns im großen Salon Wiener Walzer gespielt auf seinem
Klavier. Sind alle schon tot. […] Und das ist bei uns geworden wie bei einer
großen Familie. Und dadurch ist dieses Holland für uns so eine freundschaft-
liche Sache geworden.
Diese Erzählung erinnert an das Sagenmotiv vom (meist ärmlich gekleideten und
bettelnden) Fremden, der die Gastlichkeit der Herbergsleute schließlich mit reich-
lichen Geschenken dankt. Entlang dieses Spannungsbogens baut auch WD ihre
Geschichte auf: Unbekannte werden herzlich im ärmlichen alten Haus aufgenom-
men, die Gäste beschenken die Familie danach überraschenderweise viele Jahre
reichlich, und als WDs Familie eine Einladung nach Holland erhält, löst sich das
Rätsel der üppigen Geschenke und Anteilnahme quasi auf: Die einstigen Gäste
sind hohe Beamte, reich, und nicht zuletzt zuvorkommend.
Dass man unter dem eigenen Dach reiche, berühmte oder wichtige Leute beher-
bergte, ist ein beliebtes Motiv in den Erzählungen von VermieterInnen. AA bei-
spielsweise erwähnt beiläufig, einmal den österreichischen Bundeskanzler Kurt
Schuschnigg in seinem Hause beherbergt zu haben. Bekanntschaft mit Promi-
nenten gemacht zu haben, ist allgemein in lebensgeschichtlichen Erzählungen ein
beliebtes Motiv. Außergewöhnliches, Nicht-Alltägliches wird ganz selbstverständ-
lich als erzählenswert erachtet, gleichzeitig ermöglichen einzigartige Erlebnisse,
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439