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XX ♀, geboren 1907:
XX: Er war dann fort, als unsere Tochter auf die Welt gekommen ist. Und
da hat er einige Wochen bevor sie gekommen ist, einrücken müssen. Und da
haben wir halt dann ausgemacht, dass wir – telefonieren hat man können –
dass wir berichten, dass er nicht Angst hat. Jetzt ist aber eine Verwandte von
meinem Mann ist dann … Die Tochter ist dann auf die Welt gekommen und
mein Mann war in Wien irgendwo und dann hat man zum Arzt nach St. Gal-
lenkirch müssen. Ich hab aber keinen Arzt gebraucht, aber man hat dann halt
doch infolgedessen gemacht. Der Arzt hat halt auch geholfen. Der Arzt war
ein Verwandter von meinem Mann, zu dem sind wir und haben es ihm gesagt,
sodass man es meinem Mann weitersage, damit er herkam. Und da hat dann
der Arzt gesagt, also als Telefongespräch, [2 sec. Pause] die … na, wie hat er
denn gesagt? Mein Gott, also „Die Geburt ist vorbei [2 sec. Pause] großer Blut-
verlust. Mutter dementsprechend okay.“ Und das war schon genug. Und dann
ist mein Mann gekommen, er ist dann bis Bludenz gefahren, irgendwie mit
einem Zug wird er gefahren sein. Und dort, von Bludenz, ist er in der Nacht
zu Fuß herein. Morgens um sechs Uhr kam er in mein Schlafzimmer [lacht],
das weiß ich noch gut. Und meine Mutter war dann bei mir. Und dann hat er
nach zehn Tagen wieder einrücken müssen.
Bei den Erzählungen SHs und BBs handelt es sich klar um Darstellungen aus der
Männerperspektive, sie beschreiben ihre Erinnerungen an die äußeren Umstände
und persönlichen Erlebnisse abseits der Geburt. Für SH steht in Zusammenhang
mit der Geburt seines Sohnes seine Aufgabe der Suche nach der Hebamme im Vor-
dergrund, BB thematisiert seinen Verzicht auf eine Wienfahrt und das Versäumen
der Abschlussfeier seiner Ausbildung und spricht vom „strengsten Tage in meinem
Leben“. Die Geburt selbst, von der nicht einmal gewiss ist, ob die Männer selbst
dabei waren, sowie die Zeit nach der Geburt werden nicht angesprochen.
FFs Erzählung ist kürzer, er spricht im Gegensatz zu SH und BB allerdings die
Bedeutung der Kinder für das eigene Leben an und weist darauf hin, wie nahe
Glück und Sorge in Bezug auf das Leben der Kinder – und deren Bedeutung für
das eigene – beieinander liegen.
Auch XX als Frau berichtet nicht von der Geburt selbst und dem hohen Blut-
verlust, von dem der Arzt in ihrer Erzählung spricht. Sie thematisiert ebenfalls
Erinnerungen an die äußeren Rahmenbedingungen und lässt an ihrer schönen
Erinnerung an den Urlaub des Mannes aus dem Krieg teilhaben.
In der Zusammenschau dieser vier Ausschnitte fällt auf, dass keine der Erzählun-
gen die Geburt und das Kinder-Bekommen an sich thematisiert, die Geschich-
ten kreisen vielmehr mit gewisser Distanz um diesen Erzählstoff und beschreiben
die Rahmenbedingungen sowie damit verbundenen Anekdoten. Die Erklärung
für dieses Erzählstereotyp könnte in der Selbstverständlichkeit des Ereignisses
der Geburt für die ErzählerInnen liegen, die ja allesamt in einer traditionellen,
landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft sozialisiert wurden und die in einer Zeit,
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439