Page - 405 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 405 -
Text of the Page - 405 -
405
Nicht alle Erzählungen über Katastrophen sind so konkret und anschaulich wie
die bisherigen Ausschnitte aus den Gesprächen, was nicht verwundert, denn die
Erzählenden erlebten diese Ereignisse am eigenen Leib und die Erinnerungen
daran begleiteten sie teilweise ein Leben lang. Auch in Bezug auf Katastrophen
gibt es natürlich sogenannte Berichte „aus zweiter Hand“, in vielerlei Hinsicht
können sie zu den zeitgenössischen Sagen gezählt werden. Im Fachjargon werden
diese Sagen der Gegenwart „Contemporary Legends“ oder irreführenderweise
auch „Urban Legends“ genannt. Dabei handelt es sich um „eine Geschichte von
zweifelhafter Glaubwürdigkeit und sagenhaftem Inhalt, die so weitererzählt wird,
als sei sie tatsächlich passiert, und zwar gerade eben dem […] Bekannten eines
Bekannten.“505
Der 1919 geborene RR berichtet in einem Interview von einem während seiner
Kindheit praktizierten „Lawinenfeiertag“, er schildert weiters, wie dieser Feiertag
entstanden ist, um dann mit einer sagenhaften Begebenheit abzuschließen:
RR: Dann ist auf dem Ziegerberg da heroben früher „an Leuefiertig“506 gewe-
sen, im Februar. […] Den kann ich mich halt noch erinnern, so noch 20er
Jahre, gegen Ende hin, da sind die „Ziegerberger, an Täl“507, es ist egal gewesen,
wann der gewesen ist, unter der Woche, ist man in die Messe hinunter. Und
der ist entstanden, da ist einer oben auf dem Oberen Ziegerberg […] einmal
unter die Lawine gekommen. Und da hat er ein Versprechen gegeben, wenn
er noch einmal auskommen würde, würde er Geld anlegen, dass der Zins ein
Amt abtragen würde, jedes Jahr. Nicht nur eine Messe, ein Amt. Und dann
ist er ausgekommen. Und dann hat er es auch … heim, und hat es der Frau
erzählt, sich kaum getraut zu sagen. Sie hätte auch nichts gesagt. Und dann
hat es immer geheißen, der „Leuefiertig“. Das weiß ich noch. Und dann sind
eben diese Ziegerberger, sind die meisten zur Messe, früher. […] Und dann hat
sie auch gesagt, die Mama, dann seien einmal die Ziegerberger halt auch in
die Messe am „Leuefiertig“. Und dann ist oben „ondr am Böttli, of am Lenz“508
heißt es, […] hat der Mann Holz gespalten, im Schopf drinnen. […] Und da
seien sie hin und hätten gesagt: „Was tust denn du heute da Holz hacken am
‚Leuefiertig‘?“ Da hätte er gesagt: „Ja da herinnen tut mir die Lawine nichts“.
Und da sei er am Abend noch „a z’Lan“509, und da hat es ihn ein Stückchen
weiter oben, […] hat ihn die Lawine hinunter und sei er tot gewesen.
Der werthaltige Endpunkt RRs Erzählung entspricht einem verbreiteten Motiv in
Sagen über Naturkatastrophen. Dieses Motiv inszeniert die Natur als höhere Ins-
tanz, die das (un)moralische Verhalten der Menschen überwacht und sanktioniert.
RRs Geschichte, die er von seiner Mutter gehört hat, wie er selbst angibt, zeigt den
505 Jüngst, Heike (Hg.): Urban Legends. Stuttgart 1999. S. 5f.
506 ein Lawinenfeiertag.
507 ein Teil der EinwohnerInnen von Ziegerberg.
508 Hofbezeichnung.
509 ins Tal.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439